Geleitwort zur deutschsprachigen Ausgabe
Die Medizin und unsere Gesundheitsversorgung gehören zu den beeindruckendsten Errungenschaften der Menschheit und haben unser Leben gerade im letzten Jahrhundert tiefgehend beeinflusst. Alle Segnungen aus dieser Entwicklung können jedoch nicht verdecken, dass die Medizin uns gleichzeitig auch regelmäßig in negativer Form berührt. Medienberichte über Skandale in der medizinischen Forschung oder über ärztliche Kunstfehler zeigen das ebenso wie unsere Ohnmacht, mit der wir miterleben müssen, wie nahe Angehörige oder Freunde an einer Krebserkrankung sterben, ohne dass die Medizin dies verhindern kann.
Selbst einfache Routinebehandlungen und -eingriffe können unerwartet zu Schäden führen und schlimmstenfalls mit dem Tod enden. Der enorme Nutzen von medizinischen Maßnahmen ist untrennbar mit Risiken verbunden. Die Medizin war, ist und bleibt ein Risikogebiet, dessen müssen wir uns bewusst sein. Entscheidungen und Handlungen sind mit einem unvermeidlichen Maß an Unsicherheit behaftet, das deswegen immer berücksichtigt werden muss.
Die Bewertung von Verfahren geschah traditionell aufgrund der Erfahrung, die ein Arzt in seiner Praxis im Laufe der Jahre sammelte. Während dieses so erworbene Wissen zwangsläufig subjektiv und unsystematisch ist, haben die letzten Jahrzehnte eine beeindruckende Verbesserung gezeigt: Das Wissen über Vor- und Nachteile einzelner medizinischer Verfahren – von Arzneimitteln bis hin zu Operationstechniken – wird immer systematischer durch wissenschaftliche Studien belegt. Heute ist Normalität, dass weltweit jedes Jahr Hunderttausende von Patienten ihre Diagnose oder Behandlung innerhalb von klinischen Studien erhalten, damit die Ergebnisse anderen Patienten zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Jedes Jahr werden deswegen zehntausende Studien durchgeführt, in denen Verfahren A bei einer Hälfte und Verfahren B bei der anderen Hälfte der Patienten angewendet wird, um damit die Überlegenheit von A oder B nachzuweisen, gleichzeitig aber auch, um Hinweise auf mögliche Schäden zu bekommen.
Die Information aus den klinischen Studien ist in den letzten Jahren eine mächtige Ergänzung der ärztlichen Erfahrung geworden und hat sogar einen eigenen Namen bekommen: Evidenz. Die evidenzbasierte Medizin oder besser Gesundheitsversorgung ist ein seit 1990 vereinheitlichtes Konzept, unter dem das Wissen aus klinischen Studien systematisch zur Entscheidungsunterstützung herangezogen wird. Nutzer hiervon ist in erster Linie der Arzt. Heute werden Entscheidungen jedoch zunehmend nicht mehr vom Arzt allein gefällt, sondern «partizipativ», d. h. gemeinsam mit dem Patienten und oft auch den Angehörigen. Diese partizipative Entscheidungsfindung – mit dem Arzt auf Augenhöhe – erfordert ein grundlegend anderes Verständnis der Rollen auf beiden Seiten mit wesentlich mehr Verantwortung aufseiten der Patienten, als das traditionell der Fall war. Das erfordert nicht nur die Bereitschaft, diese Verantwortung zu tragen, sondern auch zumindest grundlegende Fähigkeiten, die Qualität von Behandlungen so weit zu verstehen und einschätzen zu können, dass die notwendigen Entscheidungen mit dem Arzt geteilt werden können.
Damit kommen auf den Patienten völlig neue Anforderungen zu, die nicht leicht zu bewältigen sind. Mehr Kompetenz für die eigene Gesundheit zu entwickeln, ist für viele Menschen reizvoll, wenn sie intensiver darüber nachgedacht haben. Daraus entwickelt sich zunehmend mehr Interesse an diesen Themen. Die alles überlagernde Schlüsselfrage ist dabei, ob die möglichen Therapien ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in geeigneten klinischen Studien bewiesen haben. Das bedeutet keine Abwertung der oft jahrelangen Vorarbeiten in Theorie, im Labor und im Tierversuch, die die Voraussetzungen für die meisten Verfahren schaffen. Es ist nur die Einsicht, dass für den Erfolg der eigenen Behandlung nur der letzte Schritt entscheidend ist, und das ist der Nachweis in einer klinischen Studie.
Ben Goldacre beschreibt in seinem folgenden Geleitwort eindrücklich die vielfältigen Gefahren, die sowohl bei der Durchführung wie auch in der nachträglichen Verarbeitung und Verbreitung der Ergebnisse lauern. Eine der Hauptfehlerquellen liegt in Erwartungen, Wünschen und Glauben aller Beteiligten, die dem objektiven Wissen aus Studien im Wege stehen und oft zu stark verfälschten Ergebnissen führen. Diese in den letzten Jahrzehnten intensiv untersuchten Fehler haben zu einer Reihe strikter Regeln geführt, die die Studiendurchführung und Berichterstattung aufwendig und anstrengend machen. Sie sind jedoch unbedingt notwendig und unverzichtbar, um verlässliche Studienergebnisse zu erhalten, von denen in der Folge Gesundheit und Leben anderer Patienten abhängen.
Dieses Buch ist der konsequente Versuch, die strengen Regeln für verlässliche Information für Patienten und Betroffene verständlich und nutzbar zu machen. Dass offensichtlich haltlosen Versprechungen von Eiferern und Scharlatanen nicht getraut werden kann, haben die meisten Menschen verstanden. Dass man jedoch auch seriösen Wissenschaftlern, Ärzten, Krankenkassen, Behörden und gesundheitspolitischen Organisationen nicht blind vertrauen sollte, ist weit weniger leicht einsichtig. Täglich verbreitete Empfehlungen und Versprechungen zeigen das jedoch sofort: Neue Behandlungen sind nicht automatisch besser; mehr ist nicht notwendigerweise besser; das frühe Erkennen einer Krankheit ist keinesfalls immer besser; und etabliert bedeutet nicht immer bewährt!
Behauptungen dieser Art führen uns immer wieder in die Irre, ihre häufige Wiederholung macht sie nicht richtiger. Leider beherrschen sie auch das Denken vieler Patienten. In den folgenden Kapiteln wird erklärt, warum vieles, was scheinbar plausibel ist, nicht stimmt und uns zu falschen Entscheidungen führt. Neben den systematischen Fehlern, die dazu führen, werden auch die Zufallsfehler erläutert, die in Studien an Menschen unvermeidlich sind und das Geschehen noch weiter komplizieren. Gerade weil Studien an uns Menschen so fehlerträchtig sind, muss größter Wert auf strenge wissenschaftliche Regeln bei der Durchführung gelegt werden. Diese nicht nur grob zu verstehen, sondern auch die Notwendigkeit und den Sinn einzusehen, sollte nach dem Lesen dieses Buches sehr viel leichter möglich sein.
Wiederholt wurde der Vorläufer dieses Buchs als «zu englisch» kritisiert. Die Kritik ist einerseits berechtigt, andererseits jedoch nicht abzustellen. Die angelsächsischen Länder haben, vor allem durch ihre um Größenordnungen umfangreicheren finanziellen Mittel für dieses Themenfeld, einen jahrelangen Vorsprung gegenüber Deutschland. Das bezieht sich sowohl auf die Anzahl der mit öffentlichen Mitteln durchgeführten Studien als auch auf die systematische Berücksichtigung von Studienergebnissen in der Gesundheitsversorgung, also der Praxis der evidenzbasierten Medizin. Insofern müssen wir mit dem Kompromiss leben, das Verständnis von klinischen Studien an Studien aus anderen Ländern zu erläutern.
Neben den Studien aus englischsprachigen Ländern ist auch die Übertragung der Terminologie in die deutsche Sprache eine stete Herausforderung, die viel Aufwand erfordert. Für ihre tatkräftige Mithilfe bedanke ich mich bei Caroline Mavergames und Britta Lang, die wesentlich zur Qualität der deutschen Ausgabe beigetragen haben.
Februar 2013, Gerd Antes