Einleitung
Es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, wann unsere Beobachtungen über komplexe Ereignisse in der Natur vollständig sind. Unser Wissen ist begrenzt, wie Karl Popper betont hat, während unsere Unwissenheit grenzenlos ist. In der Medizin können wir uns niemals sicher sein, welche Folgen unser Handeln haben wird. Wir können lediglich das Ausmaß der Unsicherheit eingrenzen. Dieses Eingeständnis ist nicht so pessimistisch, wie es klingt: Behauptungen, die wiederholten hartnäckigen Infragestellungen standhalten, erweisen sich oftmals als recht zuverlässig. Solche ‚sich ändernden Wahrheiten’ sind die Bausteine für die einigermaßen festen Strukturen, auf die sich unser ärztliches Handeln am Krankenbett tagtäglich stützen kann.
(William A. Silverman. Where’s the evidence? Oxford: Oxford University Press, 1998, S. 165)
Die moderne Medizin kann ungeheure Erfolge verzeichnen. Es ist nur schwer vorstellbar, wie das Leben ohne Antibiotika ausgesehen haben muss. Die Entwicklung weiterer wirksamer Arzneimittel hat die Behandlung von Herzinfarkten und Bluthochdruck revolutioniert und das Leben an Schizophrenie erkrankter Menschen verändert. Die Impfung von Kindern hat Polio und Diphtherie in den meisten Ländern zu einer fernen Erinnerung verblassen lassen, und dank künstlicher Gelenke leiden zahllose Menschen weniger stark an Schmerzen und Beeinträchtigungen. Die modernen Bildgebungsverfahren wie Ultraschall, Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT, «Kernspin») haben dazu beigetragen, dass genaue Diagnosen gestellt werden können und die Patienten die richtige Behandlung erhalten. Früher kam die Diagnose zahlreicher Krebserkrankungen einem Todesurteil gleich, während Patienten heutzutage regelrecht mit ihrer Krebserkrankung leben anstatt daran zu versterben. Und weitgehend hat sich auch HIV/AIDS von einer rasch tödlichen zu einer chronischen (lang dauernden) Krankheit gewandelt.
Natürlich sind viele Verbesserungen im Gesundheitswesen aufgrund von sozialen Fortschritten und Fortschritten im Bereich der öffentlichen Gesundheit wie etwa sauberes Leitungswasser, Kanalisation und besseren Wohnverhältnissen zustande gekommen. Doch selbst Skeptikern würde es schwerfallen, die beeindruckenden Einflüsse der modernen medizinischen Versorgung zu leugnen. Während des letzten halben Jahrhunderts hat eine bessere Gesundheitsversorgung wesentlich zu einer höheren Lebenserwartung beigetragen und die Lebensqualität vor allem chronisch kranker Menschen verbessert. [1, 2]
Doch die Triumphe der modernen Medizin können uns leicht dazu verführen, viele der aktuellen Probleme zu übersehen. Selbst heute kann sich ein viel zu großer Teil der medizinischen Entscheidungsfindung nicht auf ausreichende Belege stützen. Es gibt immer noch zu viele Therapien, durch die Patienten Schaden nehmen können, etliche, die keinen Nutzen haben oder deren Nutzen nicht nachgewiesen ist, und wieder andere, welche die Mühe lohnen, die aber zu selten angewendet werden. Wie kann das sein, wenn doch jedes Jahr Studien über die Wirkungen von Therapien einen ganzen Berg von Ergebnissen erzeugen? Leider sind die Erkenntnisse oftmals unzuverlässig, und außerdem befasst sich ein Großteil der Forschung nicht mit den Fragen, die aus Sicht der Patienten beantwortet werden müssten.
Ein Teil des Problems ist, dass Therapieeffekte nur in ganz seltenen Fällen klar auf der Hand liegen oder dramatisch ausfallen. Stattdessen herrscht im Normalfall Unsicherheit darüber, wie gut neue Therapien wirken oder ob sie vielleicht sogar mehr schaden als nützen. Um Therapieeffekte zuverlässig zu identifizieren, sind deshalb sorgfältig geplante faire Tests vonnöten – Tests also, die darauf ausgelegt sind, systematische Fehler (Bias) zu verringern und dem Zufallsfaktor Rechnung zu tragen (s. Kap. 6).
Die Unmöglichkeit vorherzusagen, was genau passiert, wenn ein Mensch eine Krankheit entwickelt oder eine Therapie erhält, bezeichnet man gelegentlich als Franklins Gesetz, nach dem amerikanischen Staatsmann Benjamin Franklin (18. Jahrhundert), der einmal die berühmten Worte gesprochen hat: «Nichts in dieser Welt ist sicher außer dem Tod und den Steuern.» [3] Und doch ist Franklins Gesetz unserer Gesellschaft wohl kaum zur zweiten Natur geworden. Auf die Unvermeidlichkeit von Unsicherheit wird in unseren Schulen nicht stark genug hingewiesen, und auch nicht auf die grundlegenden Konzepte, wie man Erkenntnisse (Evidenz) gewinnt und interpretiert oder wie Angaben zu Wahrscheinlichkeiten und Risiken zu verstehen sind. Wie ein Kommentator es einmal formuliert hat:
In der Schule wurde uns etwas über Chemikalien in Reagenzgläsern beigebracht, über Gleichungen, mit denen man Bewegung beschreibt, und vielleicht haben wir noch etwas über Photosynthese gelernt. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach haben Sie nichts über Todesfälle, Risiken, Statistik und die Wissenschaft erfahren, die Sie entweder kuriert oder aber umbringt. [4]
Und während die auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende angewandte Medizin schon zahllose Leben gerettet hat, so würden Sie arg in Verlegenheit geraten, wenn Sie in einem naturwissenschaftlichen Museum ein einziges Exponat ausfindig machen sollten, das die wichtigsten Prinzipien der wissenschaftlichen Untersuchung erklärt.
Seien Sie sich nicht zu sicher! |
«Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re. Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch (…) Es ist alles durchwebt von Vermutung.»
(Xenophanes, 6. Jahrhundert v. Chr.) «Ich bin mir immer sicher in Sachen, die man nicht wissen kann.» (Charlie Brown, «Peanuts») «Unsere zahlreichen Irrtümer zeigen, dass der Umgang mit Kausalschlüssen … eine Kunst bleibt. Auch wenn wir zu unserer Unterstützung analytische Verfahren, statistische Methoden und Konventionen sowie logische Kriterien entwickelt haben, so bleiben die Schlussfolgerungen, zu denen wir gelangen, letztlich doch eine Frage des Ermessens.» (Susser M. Causal thinking in the health sciences. Oxford: Oxford University Press, 1983) |
Die Begriffe Unsicherheit und Risiko spielen dabei wirklich eine große Rolle. Nehmen wir zum Beispiel die logische Unmöglichkeit, etwas «Negatives zu beweisen» – d. h. zu zeigen, dass etwas nicht existiert oder dass eine Therapie wirkungslos ist. Dies ist nicht bloß ein philosophischer Streit; es hat auch wichtige praktische Konsequenzen, wie die Erfahrungen mit einem Kombinationspräparat namens Bendectin (aktive Wirkstoffe Doxylamin und Pyridoxin bzw. Vitamin B6) zeigen. Bendectin (auch unter den Namen Debendox und Diclectin im Handel) wurde Frauen häufig zur Linderung von Übelkeit in der Frühschwangerschaft verordnet. Allerdings kamen bald Behauptungen auf, dass Bendectin Geburtsdefekte verursacht. Diese Behauptung wurde bald in einer ganzen Lawine von Gerichtsprozessen untersucht. Unter dem Druck all dieser anhängigen Gerichtsverfahren nahmen die Hersteller Bendectin 1983 aus dem Handel. In mehreren nachfolgenden Übersichtsarbeiten der verfügbaren Evidenz konnte aber keine Unterstützung für einen Zusammenhang mit dem Auftreten von Geburtsdefekten erbracht werden – es war nicht möglich, den schlüssigen Beweis dafür zu erbringen, dass es nicht schadet, aber es gab auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Bendectin schädlich war. Ironischerweise war Bendectin da schon vom Markt genommen worden, und die einzigen für die Behandlung der morgendlichen Übelkeit bei Schwangeren nun noch verfügbaren Medikamente sind solche, über deren Potenzial zur Verursachung von Geburtsdefekten wir noch viel weniger wissen. [5]
In der Regel kann Forschung solche Unsicherheiten bestenfalls verringern helfen. Therapien können sowohl schaden als auch nützen. Solide, gut durchgeführte Forschung kann die Wahrscheinlichkeit angeben, dass eine Therapie für ein gesundheitliches Problem Vor- oder Nachteile bewirkt, indem sie diese Therapie mit einer anderen Therapie oder überhaupt keiner Behandlung vergleicht. Da immer Unsicherheit herrschen wird, ist es sinnvoll, der Versuchung zu widerstehen, alle Dinge nur schwarz und weiß zu sehen. Denn das Denken in Wahrscheinlichkeiten macht uns stärker. [6] Die Menschen müssen wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Krankheit einen bestimmten Ausgang nimmt – sagen wir die Wahrscheinlichkeit, mit der bei einem Bluthochdruck-Patienten ein Schlaganfall eintritt – also die Faktoren, die Einfluss nehmen auf das Risiko eines Schlaganfallereignisses sowie die Wahrscheinlichkeit, dass eine Therapie das Risiko eines Schlaganfallereignisses verändert. Wenn ausreichend verlässliche Informationen vorliegen, können Patienten und Ärzte gemeinsam zu beurteilen versuchen, in welchem Verhältnis zueinander die Vor- und Nachteile einer Therapie stehen. Anschließend können sie die Option wählen, die sich für den betreffenden Patienten – gemessen an seinen persönlichen Umständen und Präferenzen – am besten eignet. [7]
Dieses Buch hat sich zum Ziel gesetzt, die Kommunikation zu verbessern und das Vertrauen zu stärken; es ist nicht unser Ziel, das Vertrauen der Patienten in die Ärzteschaft zu untergraben. Dazu kann es aber nur kommen, wenn die Patienten sich selbst und ihren Ärzten helfen können, die verschiedenen Behandlungsoptionen kritisch zu bewerten.
In Kapitel 1 wird kurz erläutert, warum wir faire Therapietests brauchen und inwieweit manche neuen Therapien schädliche Wirkungen gezeigt haben, mit denen man nicht gerechnet hatte. In Kapitel 2 beschreiben wir Fälle, in denen sich erhoffte Therapieeffekte nicht eingestellt haben, und beleuchten die Tatsache, dass zahlreiche verbreitet eingesetzte Therapien nicht ausreichend evaluiert sind. Kapitel 3 veranschaulicht, warum eine intensivere Therapie nicht unbedingt besser ist. Kapitel 4 erklärt, warum das Screenen gesunder Menschen auf Krankheitsfrühzeichen sowohl nachteilig als auch hilfreich sein kann. In Kapitel 5 befassen wir uns mit den vielen Unsicherheiten, die nahezu alle Aspekte der Gesundheitsversorgung durchdringen, und zeigen auf, wie man mit diesen Unsicherheiten umgehen kann.
Kapitel 6, 7 und 8 enthalten verschiedene «fachliche Informationen», die aber in allgemein verständlicher Sprache präsentiert werden. In Kapitel 6 stellen wir die Grundlagen für faire Therapietests dar, wobei besonders darauf abgehoben wird, wie wichtig es ist, Gleiches mit Gleichem zu vergleichen. Kapitel 7 beleuchtet die Frage, warum die Berücksichtigung des Zufallsfaktors unerlässlich ist, und Kapitel 8 erläutert, warum es so wichtig ist, alle relevanten zuverlässigen Erkenntnisse systematisch auszuwerten.
Kapitel 9 legt dar, warum die Systeme zur Reglementierung von Forschung über Therapieeffekte (in Gestalt von Ethikkommissionen und anderen Gremien) für die Durchführung guter Forschung hinderlich sein können, und erläutert, warum diese Art von Reglementierung den Patienteninteressen unter Umständen zuwider laufen kann. In Kapitel 10 werden die wichtigsten Unterschiede zwischen guter, schlechter und überflüssiger Forschung über Therapieeffekte herausgearbeitet; es legt dar, inwieweit Forschung häufig durch wirtschaftliche und akademische Prioritäten verzerrt wird und es ihr deshalb nicht gelingt, die Fragen zu thematisieren, die für das Wohlergehen der Patienten wirklich wichtig wären.
Kapitel 11 zeigt auf, was Patienten und die Öffentlichkeit tun können, um sicherzustellen, dass Therapien besser getestet werden. In Kapitel 12 wenden wir uns der Frage zu, wie robuste Evidenz aus der Therapieforschung wirklich zu einer besseren Gesundheitsversorgung des einzelnen Patienten beitragen kann. Und in Kapitel 13 stellen wir unseren Entwurf für eine bessere Zukunft vor; den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Aktionsplan.
In jedem Kapitel wird auf eine Auswahl an wichtigen Quellen Bezug genommen. Am Ende des Buchs findet sich ein eigener Abschnitt mit zusätzlichen Quellen. Für alle Leser, die sich mit dem einen oder anderen Aspekt noch näher befassen möchten, bietet die James Lind Library unter www.jameslindlibrary.org einen guten Einstieg.
Die Autoren dieses Buchs haben sich dem Prinzip eines gerechten Zugangs zu einer auf die Bedürfnisse der Menschen eingehenden wirkungsvollen Gesundheitsversorgung verpflichtet. Diese soziale Verantwortung hängt wiederum von verlässlichen und zugänglichen Informationen über die Wirkungen von Tests und Therapien ab, die aus solider Forschung stammen. Da die Gesundheitsressourcen überall begrenzt sind, müssen sich Therapien auf robuste Evidenz stützen können und effizient und gerecht eingesetzt werden, wenn die ganze Bevölkerung eine Chance haben soll, vom medizinischen Fortschritt zu profitieren. Es ist unverantwortlich, wertvolle Ressourcen auf Therapien zu verschwenden, die nur wenig nützen, oder ohne guten Grund auf Gelegenheiten zur Überprüfung von Therapien zu verzichten, über die wir bislang nur wenig wissen. Faire Therapietests sind deshalb von entscheidender Bedeutung, weil es darum geht, allen die gleichen Behandlungsoptionen zu ermöglichen.
Wir hoffen, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, nach der Lektüre von Testing Treatments die Begeisterung für dieses Thema mit uns teilen und sich daran machen werden, unbequeme Fragen über Therapien zu stellen, Lücken im medizinischen Wissen aufzudecken und sich an der Forschung zu beteiligen, um so Antworten zu finden, von denen Sie selbst und auch alle anderen profitieren werden.