Medizinische Versorgung im Rahmen fairer Tests anbieten
Was sollte also passieren, wenn relevante Unsicherheiten über die Wirkungen neuer oder alter Therapien bestehen, die nicht richtig geprüft wurden? Eine offensichtliche Antwort lautet, unserem obigen Beispiel des Arztes zu folgen, der sich um Schlaganfall-Patienten kümmert: sich mit den bestehenden Unsicherheiten auseinandersetzen, indem man unzureichend bewertete Therapien ausschließlich im Rahmen wissenschaftlicher Studien anbietet, die darauf ausgelegt sind, mehr über ihre erwünschten und unerwünschten Wirkungen herauszufinden.
Ein Medizinethiker hat das einmal so ausgedrückt:
Wenn wir uns unsicher sind, welche spezifischen Vorzüge jeweils [unterschiedliche] Behandlungen haben, dann können wir auch bezüglich der Vorzüge der Anwendung einer einzelnen Behandlungsmethode – etwa bei der Behandlung eines einzelnen Patienten – keine Gewissheit haben. Deshalb scheint es irrational und ethisch nicht vertretbar zu sein, vor Abschluss einer geeigneten Studie auf der einen oder der anderen Methode zu beharren. Die Antwort auf die Frage: «Welches ist die für den Patienten beste Behandlung?» lautet daher: «Die Studie». Die Studie ist die Behandlung. Hat das etwas mit Herumexperimentieren zu tun? Ja. Aber was ich damit meine, ist: eine Entscheidung unter Unsicherheit treffen plus Daten sammeln. Spielt es eine Rolle, dass es sich dabei um eine «zufällige» Entscheidung handelt? Logischerweise nein. Denn welche bessere Methode könnte es geben, um sich, wenn Unsicherheit herrscht, zu entscheiden? [22]
Die Verabreichung von Therapien im Rahmen fairer Tests kann für Patienten im Hinblick auf das Behandlungsergebnis einen tief greifenden Unterschied ausmachen. Die Geschichte der kindlichen Leukämien liefert dafür ein sehr drastisches Beispiel. Bis in die 1960er-Jahre verstarb nahezu jedes Kind mit Leukämie kurz nach der Diagnosestellung. Heutzutage überleben etwa 85 von 100 Kindern. Dies konnte erreicht werden, weil die Mehrzahl der Kinder mit Leukämie an randomisierten Studien teilnahm, in denen die jeweilige Standardtherapie mit einer neuen Variante dieser Therapie verglichen wurde. [23] Bei den meisten Kindern mit einer Krebserkrankung wird die beste Behandlungsoption deshalb durch die Teilnahme an solchen Studien ausgewählt.
Können Patienten mit Unsicherheit umgehen? |
«Wo stehen wir also bezüglich des Umgangs mit Unsicherheiten gegenüber Therapieeffekten? … Ungeachtet der allgemeinen Anerkenntnis, dass Patienten in der medizinischen Forschung und bei gesundheitlichen Entscheidungen Partner sind, sind manche Ärzte von der Komplexität der Diskussion über therapeutische Unsicherheiten entnervt. Manche haben einfach Angst, dass sie dadurch beim Patienten Besorgnis auslösen: eine zweifellos aufrichtige Sorge, die aber dennoch bevormundend wirkt. Andere versuchen, ihr Handeln unter dem Aspekt der Ausgewogenheit zwischen zwei ethischen Argumenten zu rechtfertigen – erstreckt sich die ethische Pflicht, die Wahrheit zu sagen, auch auf das Ansprechen von Unsicherheiten, oder soll die moralische Verpflichtung, den Patienten vor emotionalen Belastungen zu schützen, mehr Gewicht haben? Sind die Patienten bereit, mit Unsicherheiten zu leben? Das müssen wir herausfinden. Vielleicht sind die Menschen sehr viel belastbarer, als Ärzte meinen.»
Evans I. More nearly certain. Journal of the Royal Society of Medicine 2005; 98: 195–6. |
Wenn keine solche Studie verfügbar ist, sollten die Ergebnisse, die aus der Anwendung neuer und nicht getesteter Therapien resultieren, in standardisierter Form dokumentiert werden – beispielsweise mithilfe einer Checkliste, die verschiedene Punkte umfasst: etwa Labor- oder andere Untersuchungen, die zur Diagnose einer Krankheit herangezogen werden, sowie die Untersuchungen, die durchgeführt werden, um die Auswirkungen einer Therapie zu bewerten. Ein solcher Untersuchungsplan könnte – wie es auch bei klinischen Studien der Fall sein sollte – in einer Datenbank registriert werden (s. Kap. 8). Auf diese Weise könnten die Ergebnisse in den vorhandenen Wissensfundus eingespeist werden – zum Vorteil der Patienten, welche die nicht getestete Therapie erhalten, wie auch aller anderen Patienten. Riesige Summen sind bereits in Informationstechnologie- Systeme für die Gesundheitsversorgung investiert worden, die problemlos dazu genutzt werden könnten, um diese Informationen zum Nutzen der Patienten wie auch der Öffentlichkeit zu erfassen (s. a. Kap. 11). [24]
Wenn Unsicherheiten über die Wirkungen von Behandlungen effektiver und effizienter angegangen werden sollen, wird es zu Veränderungen kommen müssen. Mit einigen dieser Veränderungen – insbesondere der stärkeren Beteiligung der Patienten – werden wir uns später noch befassen (s. Kap. 11 und 12). Einen Punkt – den wir bereits weiter oben schon kurz angesprochen haben – möchten wir an dieser Stelle aber noch besonders hervorheben. Wenn es nicht genügend Informationen über die Wirkungen von Therapien gibt, kann man die Erkenntnisse auch dadurch verbessern, dass man dafür sorgt, dass Ärzte eine solche Therapie so lange nur im Rahmen einer formalen Bewertung anbieten, bis man mehr über ihren Wert und ihre möglichen Nachteile in Erfahrung gebracht hat. Doch im Grunde wird eine solche risikobegrenzende Vorgehensweise durch manche der vorherrschenden Standpunkte, darunter z. B. auch in der Reglementierung der Forschung (s. Kap. 9), eher behindert.
Über dieses Problem hat sich vor mehr als 30 Jahren schon ein britischer Kinderarzt geärgert: Wenn er der Hälfte seiner Patienten eine Behandlung zukommen lassen wollte (um etwas über die Wirkungen dieser Behandlung herauszufinden, indem er in einem kontrollierten Vergleich bei der einen Hälfte der Patienten die neue Behandlung und bei der anderen Hälfte die bereits bekannte Therapie anwandte) bräuchte er – so seine prägnante Feststellung – eine Genehmigung. Nicht erforderlich sei eine solche Genehmigung dagegen, wenn er allen seinen Patienten dieselbe Behandlung als Standardverordnung gäbe. [25] Dieser unlogische Doppelstandard taucht immer wieder auf und schreckt diejenigen Ärzte ab, die ihren Beitrag zum Abbau von Unsicherheiten in Bezug auf Therapieeffekte leisten wollen. Im Großen und Ganzen kann dies dazu führen, dass Ärzte davon abgehalten werden, aus ihren Erfahrungen mit der Versorgung von Patienten neues Wissen zu generieren. Wie der amerikanische Soziologe Charles Bosk einmal bemerkte: «Alles ist erlaubt, solange wir versprechen, nicht aus unseren Erfahrungen zu lernen.»
Die Fähigkeit, Unsicherheiten zu erklären, verlangt aufseiten der Ärzte sicherlich Geschick und ein gewisses Maß an Demut. Viele fühlen sich unwohl, wenn sie potenzielle Teilnehmer an einer klinischen Studie darüber aufklären müssen, dass niemand weiß, welche Behandlung die beste ist. Doch die öffentliche Meinung hat sich gewandelt: Mit arroganten Ärzten, die «Gott spielen», wird kurzer Prozess gemacht. Wir müssen uns auf die Ausbildung von Ärzten konzentrieren, die sich nicht schämen zuzugeben, dass sie auch nur Menschen sind und die Unterstützung und Mitwirkung von Patienten an der Forschung brauchen, um Behandlungsentscheidungen auf eine sicherere Grundlage stellen zu können (s. Kap. 11 und 12).
Das größte Hindernis stellt für viele Ärzte und Patienten die mangelnde Vertrautheit mit den Gegebenheiten solcher fairen Therapietests dar – ein Problem, mit dem wir uns als Nächstes befassen wollen (s. Kap. 6).
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