Sind Patientenverbände unabhängig?

Ein weiterer, weniger bekannter Interessenkonflikt herrscht im Verhältnis zwischen Patientenorganisationen und der pharmazeutischen Industrie. Die meisten Patientenverbände verfügen nur über knappe Finanzmittel, sind auf die Arbeit Freiwilliger angewiesen und beziehen nur geringe unabhängige Fördermittel. Zuwendungen von und gemeinsame Projekte mit pharmazeutischen Unternehmen können ihnen zu Wachstum und mehr Einfluss verhelfen, aber auch die Ziele der Patienten, darunter auch ihrer Forschungsvorstellungen, verzerren und falsch darstellen. Die Größenordnung dieses Problems lässt sich nur schwer ermessen, doch einen faszinierenden Einblick gewährt eine Umfrage, die durchgeführt wurde, um festzustellen, in welchem Maße Patienten- und Verbraucherorganisationen, die mit der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA (European Medicines Agency) zusammenarbeiten, durch Firmensponsoren gefördert werden. Die EMA koordiniert die Bewertung und Überwachung neuer Medikamente in ganz Europa und lässt Patienten- und Verbrauchergruppen erfreulicherweise aktiv an ihren Zulassungsaktivitäten teilhaben. Als allerdings zwischen 2006 und 2008 eine Umfrage unter 23 dieser Gruppen durchgeführt wurde, ergab sich dabei, dass 15 teilweise oder sogar in erheblichem Umfang von Arzneimittelherstellern oder Verbänden der pharmazeutischen Industrie gefördert wurden. Darüber hinaus konnte weniger als die Hälfte dieser Gruppen gegenüber der Behörde genaue Angaben über Herkunft oder Höhe der von ihnen bezogenen Fördermittel machen. [17]

Die Bürger an der Verbesserung der Gesundheitsversorgung beteiligen
«Die Verschmelzung der Interessen von Patientenvertretungen, denjenigen, welche medizinische Therapien verkaufen, und denen, die sie verordnen, sorgt für eine starke Mixtur aus verschiedenen Einflüssen, welche die Entscheidungsträger fast immer in eine Richtung drängt: noch mehr Tests, noch mehr Eingriffe, noch mehr Betten, noch mehr Tabletten …

Als jemand, der sich seit mehr als zehn Jahren mit diesem Thema befasst, habe ich das Gefühl, dass in dieser Debatte häufig eine Stimme fehlt, nämlich diejenige, die das öffentliche Interesse nachhaltig vertritt. Gesponserte Patientenvertretungen sind schnell bereit, eine neue Therapie oder Technologie in den Himmel zu heben, zögern aber, ihre begrenzte Wirksamkeit, ihre übermäßigen Kosten oder offenkundigen Gefahren öffentlich zu kritisieren. Und wie viele Journalisten neigen auch Politiker dazu, sich unnötigerweise durch führende Ärzte und leidenschaftliche Fürsprecher einschüchtern zu lassen, die sich nur allzu oft für Marketingkampagnen einspannen lassen, in denen Krankheitsdefinitionen erweitert und die teuersten Lösungen beworben werden.

Vielleicht kann die Gründung neuer Bürgerlobbys im Gesundheitswesen, die sich damit auskennen, wie man wissenschaftliche Evidenz nutzen und missbrauchen kann, bewirken, dass die Debatte über die Ausgabenpriorisierung auf eine fundiertere Grundlage gestellt wird. Solche Bürgergruppen könnten es sich zur Aufgabe machen, irreführendes Marketing in den Medien routinemäßig aufzudecken und sowohl Öffentlichkeit als auch Entscheidungsträgern realistische und differenzierte Bewertungen der Risiken, Vorteile und Kosten einer sehr viel breiteren Palette von Gesundheitsstrategien zugänglich zu machen.»

Moynihan R. Power to the people. BMJ 2011; 342: d2002.

In einigen Fällen haben Pharmaunternehmen selbst Patientenorganisationen gegründet, um Einfluss zugunsten ihrer Produkte zu nehmen. So hat eines der Unternehmen, die Interferon herstellen, eine neue Patientengruppe mit dem Namen «Action for Access» ins Leben gerufen, um den britischen National Health Service dazu zu bewegen, Interferone zur Behandlung der multiplen Sklerose verfügbar zu machen (siehe Wie Patienten faire Therapiestudien gefährden können, Absatz 2 u. Absatz 3). [18, 19] Die Botschaft, die diese Patientengruppen mit ihrer beträchtlichen Öffentlichkeitswirkung verkündeten, lautete, dass Interferone zwar wirksam, aber zu teuer seien. Dabei ging es in Wahrheit um die Frage, ob diese Medikamente überhaupt irgendwelche vorteilhaften Wirkungen haben.