Wie Patienten faire Therapiestudien gefährden können

Die Beteiligung von Patienten an der Forschung wirkt sich auf faire Therapiestudien nicht immer nur förderlich aus. Eine im Jahr 2001 unter Wissenschaftlern durchgeführte Umfrage zeigte einige ausgesprochen positive Erfahrungen mit der Einbeziehung von Patienten in klinische Studien auf. Gleichzeitig deckte sie aber auch einige sehr reale Probleme auf, die hauptsächlich darauf zurückzuführen waren, dass die Beteiligten keine Erfahrungen mit dieser Art von Zusammenarbeit hatten. Zunächst einmal gab es häufig beträchtliche Verzögerungen beim Beginn solcher Forschungsprojekte. Zudem bestanden Bedenken wegen Interessenkonflikten und der «Repräsentativität » einiger Patienten, die noch nicht erkannt hatten, wie wichtig es ist, in die im Rahmen des Studienmanagements stattfindenden Sitzungen nicht nur ihre eigenen Interessen einzubringen. [5]

Viele dieser Probleme ergaben sich anscheinend aus dem aufseiten der Patienten verständlicherweise bestehenden Mangel an Wissen über den Ablauf und die Finanzierung von Forschungsvorhaben. Verzweifelte Umstände führen manchmal zu dem verzweifelten Bemühen, sich Zugang zu Behandlungen zu verschaffen, die noch nicht ausreichend geprüft wurden und die – selbst bei Patienten, die im Sterben liegen – möglicherweise mehr schaden als nützen. Wir haben bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass diese Art von Lobbyismus durch Patienten und ihre Fürsprecher im Hinblick auf die «mitfühlende» Zulassung «vielversprechender» neuer medikamentöser Therapien für AIDS auch seine Schattenseiten hat: Die Identifizierung von Therapien, die auf patientenrelevante Ergebnisse ausgerichtet sind, wurde dadurch verzögert; so hat sich z. B. in der jüngeren Vergangenheit die Fürsprache durch falsch informierte Einzelpersonen bzw. Patientengruppen kontraproduktiv auf die Verordnung von Medikamenten gegen multiple Sklerose (MS) und Brustkrebs ausgewirkt.

Mitte der 1990er-Jahre wurden Interferone zur Behandlung von Patienten mit schubförmig remittierender MS auf der Grundlage spärlicher Wirksamkeitsnachweise zugelassen. Sehr schnell verlangten alle Patienten mit allen möglichen MS-Formen nach diesen kostspieligen Medikamenten, und ihre Anwendung wurde von den Krankenkassen sogar finanziert. Interferone wurden zu einer anerkannten Standardtherapie für diese kräftezehrende Krankheit. Infolgedessen werden wir niemals erfahren, wie man Interferone bei multipler Sklerose richtig verordnet – darüber wurde nie geforscht, und mittlerweile ist es zu spät, um die Uhr zurückzudrehen. Im Laufe der Zeit ist eines aber ganz deutlich geworden: Interferone haben unangenehme Nebenwirkungen wie z. B. «grippeähnliche» Symptome.

Auch Herceptin (Trastuzumab) ist, wie wir in Kapitel 1, Herceptin, Absatz 4 – Absatz 6, erläutert haben, kein Wundermedikament, das allen Brustkrebs- Patientinnen hilft. Zunächst einmal hängt seine Wirksamkeit von einer besonderen genetischen Konstellation des Tumors ab, die nur bei einer von fünf Frauen mit Brustkrebs vorliegt. Zudem hat das Medikament potenziell schwerwiegende kardiale Nebenwirkungen. Und doch wurden Politiker von Patientenvertretern durch Schüren des Medienrummels dazu gebracht, mit dem Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen: Die Anwendung von Herceptin wurde offiziell empfohlen, ohne sich groß um die vorhandene Evidenz bzw. die Erkenntnis zu kümmern, dass weitere Belege für ein ausgewogenes Verhältnis von Vor- und Nachteilen noch ausstanden.

«Pester Power» und neue Medikamente
«Bei neuen Medikamenten handelt es sich naturgemäß um unausgereifte Produkte, da die vollständigen Angaben über ihre Sicherheit, Wirksamkeit und Kostenauswirkungen noch nicht vorliegen. Dabei sollte auch bedacht werden, dass die enthusiastische Fürsprache für alles ‹Neue› nicht die alleinige Domäne der Presse ist, sondern oftmals auch in den anderen Medien sowie in der Medizin und den Naturwissenschaften zu beobachten ist. ‹Pester Power› ist ein Konzept, das man normalerweise mit kinderorientierten Werbestrategien in Zusammenhang bringt. In diesem Zusammenhang müssen wir uns die Frage stellen, ob wir es hier mit der Pester Powervon Patienten zu tun haben oder etwa mit direkt an den Patienten als Endverbraucher gerichteter Werbung ( sogenannte Direct-to-Consumeroder DtC-Werbung), durch die das Bewusstsein für neue Produkte geweckt wird und Patienten, Wohltätigkeitsorganisationen und tatsächlich auch Ärzte dann verlangen, dass diese Produkte zugänglich gemacht werden. Wenn dies zutrifft, dann müssen wir mehr über diejenigen in Erfahrung bringen, die hinter dieser Art von Marketing stehen, welche Auswirkungen dieses Marketing auf das Arzt- und das Konsumentenverhalten hat und ob es im Rahmen der geltenden Zulassungsregeln überhaupt statthaft ist.»

Wilson PM, Booth AM, Eastwood A et al. Deconstructing media coverage of trastuzumab (Herceptin): an analysis of national newspaper coverage. Journal of the Royal Society of Medicine 2008: 101: 125–32