Was passieren kann, wenn nicht alle relevante verlässliche Evidenz ausgewertet wird
Zu einer fairen Therapiestudie gehört auch die systematische Prüfung der gesamten relevanten und verlässlichen Evidenz. Nur so kann festgestellt werden, ob die Erkenntnisse aus Tier- oder anderen Laborstudien stammen oder von gesunden Probanden (Freiwilligen), an denen manchmal neue Therapien getestet werden, oder aus früheren Forschungsarbeiten, an denen Patienten beteiligt waren. Wird dieser Schritt ausgelassen oder nicht sorgfältig durchgeführt, können sich daraus ernsthafte Folgen ergeben: So kann es passieren, dass Patienten im Allgemeinen sowie Teilnehmer an klinischen Studien im Besonderen Schaden nehmen (und manchmal auch unnötigerweise sterben) und dass in der Gesundheitsversorgung und -forschung wertvolle Ressourcen verschwendet werden.
Vermeidbare Nachteile für Patienten
Die Therapieempfehlungen bei Herzinfarkt, die über einen Zeitraum von 30 Jahren in verschiedenen Lehrbüchern erschienen sind, wurden mit der Evidenz verglichen, die die Autoren durch eine systematische Auswertung der Ergebnisse fairer Therapietests aus dem besagten Zeitraum hätten gewinnen und berücksichtigen können. [11] Der Vergleich zeigte, dass die Lehrbuchempfehlungen häufig falsch waren, weil die Autoren die relevante Evidenz nicht systematisch geprüft hatten. Das hatte katastrophale Folgen. In einigen Fällen kam es dazu, dass Patienten mit Herzinfarkt deshalb lebensrettende Therapien (z. B. gerinnselauflösende Medikamente) vorenthalten blieben. Und es gab andere Fälle, in denen Ärzte Therapien auch dann noch empfahlen, nachdem faire Tests längst gezeigt hatten, dass diese tödlich verlaufen können (z. B. die Gabe von Medikamenten, die bei Herzinfarkt-Patienten Herzrhythmusstörungen mildern sollen; s. o. und Kap. 2, Medikamente zur Korrektur von Herzrhythmusstörungen bei Herzinfarkt-Patienten).
Die Wissenschaft ist kumulativ, aber Wissenschaftler akkumulieren die Evidenz nicht wissenschaftlich |
«Wissenschaftler reden schon seit etwa 25 Jahren von der sogenannten ‹kumulativen Meta-Analyse›: Dazu lässt man parallel zur voranschreitenden Forschung eine Meta-Analyse zu einer bestimmten Intervention laufen. Jedes Mal, wenn eine Studie abgeschlossen ist, gibt man die entsprechenden Daten ein und erhält so ein aktualisiertes gepooltes Ergebnis. Auf diese Weise entwickelt man ein Gefühl dafür, in welche Richtung sich die Ergebnisse bewegen. Besonders nützlich dabei ist, dass auf diese Weise eine gute Chance besteht, eine statistisch signifikante Antwort zu erkennen, sobald sich Anhaltspunkte dafür ergeben, ohne dass man das Leben von Menschen in weiteren unnötigen wissenschaftlichen Untersuchungen gefährden muss.»
Goldacre B. Bad Science: How pools of blood trials could save lives. The Guardian, 10. Mai 2008, S. 16. |
Noch immer erleiden Patienten Schaden, weil es nicht gelingt, die Ergebnisse von Studien in systematischen Reviews zusammenzufassen, sobald neue Erkenntnisse verfügbar werden. Blutersatzstoffe z. B., bei denen auf Kühlung und Kreuzproben verzichtet werden kann, stellen bei der Versorgung von Blutungen offensichtlich eine attraktive Alternative zu echtem Blut dar. Leider erhöhen diese Produkte auch das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden und zu versterben. Wie eine systematische Übersichtsarbeit zu den seit den späten 1990er-Jahren veröffentlichten randomisierten Studien ganz klar zeigte, hätte man die mit diesen Blutersatzstoffen verbundenen Gefahren bereits mehrere Jahre vorher erkennen können und auch erkennen müssen. [1]
Vermeidbare Nachteile für Studienteilnehmer
Wenn versäumt wird, die gesamte relevante und zuverlässige Evidenz zu bewerten, kann dies auch bei den Teilnehmern an wissenschaftlichen Untersuchungen zu Schädigungen führen, die eigentlich vermeidbar wären. Noch immer erhalten Forscher den Auftrag und die Genehmigung, Studien durchzuführen, bei denen sie den Teilnehmern bekanntermaßen wirksame Therapien vorenthalten. So gab es beispielsweise zuverlässige Hinweise darauf, dass die Gabe von Antibiotika bei Patienten, die sich einer Darmoperation unterzogen, die Wahrscheinlichkeit reduzierte, dass sie an Operationskomplikationen verstarben. Trotzdem führten Forscher, die es versäumt hatten, bereits vorhandene Erkenntnisse systematisch auszuwerten, weiterhin Vergleichsstudien durch, in denen die Hälfte der Teilnehmer an kontrollierten Studien keine Antibiotika erhielt. Offensichtlich hatten die Einrichtungen, die diese Forschung förderten, und die wissenschaftlichen Ethikkommissionen, welche die Studienprotokolle geprüft hatten, diesen schwerwiegenden Fehler übersehen und es versäumt, entsprechenden Druck auf die Forscher auszuüben.
Wenn Forscher das, was bereits über die Wirkungen von Therapien, die sie einsetzen, bekannt ist, nicht systematisch auswerten, gefährden sie damit nicht nur behandlungsbedürftige Patienten, sondern auch gesunde Probanden. An der ersten Phase einer Therapiestudie nimmt oftmals nur eine sehr geringe Anzahl gesunder Freiwilliger teil. 2006 beispielsweise wurden sechs jungen männlichen Probanden an einer privaten Forschungseinrichtung in West London Infusionen eines Medikaments gegeben, das zuvor noch nicht beim Menschen angewendet worden war. Sie alle erlitten lebensbedrohliche Komplikationen, die ihre Gesundheit langfristig beeinträchtigten: Einer von ihnen verlor Finger und Zehen. Diese Tragödie hätte sehr wahrscheinlich verhindert werden können, [13] wenn erstens ein Bericht über eine schwerwiegende Reaktion auf ein ähnliches Medikament zur Publikation eingereicht worden wäre [14] und wenn zweitens die Forscher systematisch ausgewertet hätten, was man über die Wirkungen solcher Medikamente bereits wusste. [15] Sie hätten in diesem Fall ihre Untersuchung vielleicht überhaupt nicht fortgesetzt oder andernfalls den Probanden das Medikament vielleicht nacheinander anstatt gleichzeitig infundiert. Zudem hätten sie die gesunden jungen Probanden vor den möglichen Gefahren warnen können (und auch müssen). [16]
Verschwendung von Ressourcen im Gesundheitswesen und in der Forschung
Auch wenn Patienten bzw. Studienteilnehmer keinen unmittelbaren Schaden nehmen, hat ein Verzicht auf die Durchführung von systematischen Reviews der relevanten zuverlässigen Belege aus wissenschaftlichen Studien negative Folgen. Denn es kann dadurch zur Vergeudung von Ressourcen im Gesundheitswesen und in der Gesundheitsforschung kommen. Während der 1980er- und 1990er-Jahre nahmen beispielsweise insgesamt mehr als 8000 Patienten an mehreren Studien zu einem neuen Schlaganfallmedikament teil. Niederländische Forscher, welche die Ergebnisse dieser Medikamentenstudien systematisch auswerteten, konnten keinerlei vorteilhafte Effekte nachweisen (s. Kap. 10, Schlaganfall). [17] Deshalb beschlossen sie, auch die Ergebnisse von Medikamentenstudien auszuwerten, die zuvor an Tieren durchgeführt worden waren, und auch hier gelang ihnen der Nachweis günstiger Effekte nicht. [18] Hätten die Wissenschaftler, die die Tierversuche durchgeführt hatten, und die klinischen Forscher die Ergebnisse der Tierstudien zum damaligen Zeitpunkt systematisch ausgewertet, wären wahrscheinlich nicht Tausende von Patienten zur Teilnahme an den klinischen Studien eingeladen worden. Tatsächlich hätten die Ressourcen dann besser für die Behandlung von Schlaganfall-Patienten und für Studien aufgewendet werden können, die für die Identifizierung von Möglichkeiten zur Verbesserung von Schlaganfalltherapien relevanter gewesen wären. Und dies ist bei weitem kein Einzelfall. [19]
Hätte sich ein Todesfall durch vorherige Prüfung der Evidenz verhindern lassen? |
«Unter tragischen Umständen, die hätten verhindert werden können, verstarb im Juni [2001] die zuvor gesunde 24-jährige Ellen Roche, weil eine Chemikalie, die sie im Rahmen einer Asthmastudie der Johns Hopkins University inhalieren sollte, zu progredientem Lungen- und Nierenversagen führte. Bei der Aufarbeitung dieses Todesfalls wurde deutlich, dass der Forscher, der das Experiment durchgeführt, und die Ethikkommission, die es genehmigt hatte, anscheinend zahlreiche Hinweise auf die Gefahren der Chemikalie Hexamethonium, die Ellen Roche inhalieren musste, übersehen hatten. Besondere Brisanz erhielt der Fall zudem dadurch, dass man die Belege für die Gefährlichkeit der Chemikalie leicht in der veröffentlichten Literatur hätte finden können. Die Tageszeitung Baltimore Sun gelangte zu dem Fazit, dass der behandelnde Arzt Dr. Alkis Togias zwar ‹aufrichtig bemüht› gewesen war, die unerwünschten Wirkungen des Medikaments zu recherchieren, dass seine Recherche sich aber anscheinend auf eine begrenzte Anzahl von Quellen gestützt habe, u. a. auf PubMed, dessen durchsuchbares Archiv aber nur bis zum Jahr 1966 zurückreichte. Die Warnungen vor den mit Hexamethonium einhergehenden Lungenschäden stammten jedoch aus früheren Artikeln, die bereits in den 1950er-Jahren veröffentlicht und in späteren Publikationen zitiert worden waren.»
Perkins E. Johns Hopkins Tragedy. Information Today 2001; 18: 51–4. |