Überflüssige Forschung

Atemnotsyndrom bei Frühgeborenen

Manche Forschungsarbeiten sind weder gut noch schlecht, sondern schlicht überflüssig. Ein Beispiel dafür stammt aus der Frühgeborenenforschung. Wenn Babys zu früh geboren werden, sind ihre Lungen unter Umständen noch unreif, was mit einem Risiko für lebensbedrohliche Komplikationen wie dem Atemnotsyndrom einhergeht. Anfang der 1980er-Jahre lagen überwältigende Belege vor, dass sich die Häufigkeit von Atemnotsyndrom und Sterblichkeit bei Neugeborenen verringern ließ, wenn man den frühgeburtsgefährdeten Schwangeren ein steroidhaltiges Medikament verabreichte. Trotzdem wurden während der folgenden zehn Jahre weiterhin Studien durchgeführt, in denen die Gabe von Steroiden mit Placebo oder Nichtbehandlung verglichen wurde. Hätte man die Ergebnisse früherer Studien systematisch ausgewertet und mittels Meta-Analyse zusammengefasst (s. Kap. 7 und 8), wären viele der späteren Studien wahrscheinlich gar nicht erst begonnen worden – die kollektiven Ergebnisse hätten nämlich gezeigt, dass dafür schlicht kein Bedarf bestand. In diesen unnötigen Studien wurde somit der Hälfte der Studienteilnehmerinnen eine wirksame Therapie vorenthalten.

Schlaganfall

Ein anderes Beispiel für überflüssige Forschung – auch hier wieder, weil die Ergebnisse früherer Studien nicht zusammengefasst ausgewertet wurden – betrifft die Behandlung von Schlaganfällen mit einem Medikament namens Nimodipin (das zur Medikamentenklasse der Kalziumantagonisten gehört). Ausgangspunkt war folgende Überlegung: Wenn es gelänge, das Ausmaß der Hirnschädigung bei Schlaganfall-Patienten zu verringern, dann sollte auch das Behinderungsrisiko der Betroffenen abnehmen. Mit Beginn der 1980er-Jahre wurde, nachdem etliche Tierstudien ermutigende Ergebnisse erbracht hatten, Nimodipin deshalb bei Schlaganfall-Patienten untersucht. Obwohl eine 1988 veröffentlichte klinische Studie mit Schlaganfall-Patienten auf einen vorteilhaften Effekt schließen ließ, waren die Resultate verschiedener weiterer klinischer Studien über Nimodipin und andere Kalziumantagonisten aber widersprüchlich. Als man die akkumulierte Evidenz aus diesen klinischen Studien, die nahezu 8000 Patienten umfassten, 1999 systematisch auswertete, waren keine vorteilhaften Effekte dieser Medikamente nachweisbar (s. Kap. 8, Verschwendung von Ressourcen im Gesundheitswesen und in der Forschung). [14] Doch die Anwendung von Nimodipin beruhte ja anscheinend auf soliden wissenschaftlichen Belegen. Wie war dies also zu erklären?

Im Lichte der Ergebnisse der Patientenstudien wurden die Resultate der tierexperimentellen Studien erstmals richtig geprüft. Erst als man die Tierstudien in einem systematischen Review zusammenfasste, wurde erkennbar, dass die Versuchsplanung in den tierexperimentellen Studien generell unzulänglich war und die Ergebnisse mit systematischen Fehlern (Bias) behaftet und somit unzuverlässig waren. Anders gesagt: Es hatten von Anfang an gar keine überzeugenden Gründe für die Durchführung von Studien mit Schlaganfall- Patienten vorgelegen. [15]

Aprotinin: Wirkung auf intra- und postoperative Blutungen

An diesem Fall überflüssiger Forschung haben alle ihren Anteil: Forschungssponsoren, akademische Einrichtungen, Wissenschaftler, Ethik-Kommissionen wie auch wissenschaftliche Fachzeitschriften (s. Kap. 9). Wie wir in Kapitel 8 dargelegt haben und wie auch die ersten beiden Beispiele unnötiger Forschung zeigen, sollten neue Forschungsvorhaben nicht geplant oder umgesetzt werden, ohne die aus früheren Forschungsarbeiten gewonnenen Erkenntnisse systematisch auszuwerten.

Im Mittelpunkt einer 2005 publizierten schockierenden Analyse standen kontrollierte Studien über Aprotinin, ein Medikament zur Eindämmung von Blutungen während (intraoperativ) und nach einem chirurgischen Eingriff (postoperativ). Aprotinin wirkt. Schockierend daran war die Erkenntnis, dass auch noch lange Zeit, nachdem fundierte Belege vorlagen und zeigten, dass das Medikament die Notwendigkeit von Bluttransfusionen erheblich verringerte, weitere kontrollierte Studien zu diesem Thema durchgeführt wurden. [16]

Zum Zeitpunkt der Analyse waren die Berichte über 64 Studien veröffentlicht worden. Zwischen 1987 und 2002 fiel der Anteil der relevanten früheren Studienberichte, die in den späteren Berichten über Aprotinin-Studien zitiert wurden, von ursprünglich 33 % auf nur noch 10 % in den neusten Studienberichten. Nur 7 von 44 späteren Studienberichten nahmen Bezug auf den Bericht zur größten Studie (sie war 28-mal größer als die Studien mittlerer Größe); und in keinem der Berichte wurden die systematischen Übersichtsarbeiten zu diesen Studien erwähnt, die 1994 und 1997 publiziert worden waren.

Wie die Autoren der Analyse betonen, sollte Wissenschaft eigentlich kumulativ sein, doch von vielen Wissenschaftlern werden die Forschungsergebnisse nicht wissenschaftlich akkumuliert. Bei der Planung der neusten Studien wird häufig nicht nur versäumt, die systematischen Übersichtsarbeiten zur vorhandenen Evidenz zu berücksichtigen, sondern in den Studienberichten wird oftmals auch vergessen, die neue Evidenz in den Kontext dieser aktualisierten Übersichtsarbeiten zu stellen (s. Kap. 8).