Warum wir faire Therapietests brauchen

Natürliche Heilkräfte

Viele gesundheitliche Probleme verschlimmern sich meistens, wenn man sie nicht behandelt, und einige verschlimmern sich auch trotz Behandlung. Manche Krankheiten bessern sich aber auch von allein – man sagt in einem solchen Fall, sie seien «selbstlimitierend». Ein Wissenschaftler, der an der Überprüfung eines Behandlungsansatzes für Erkältungen beteiligt war, hat dies einmal folgendermaßen ausgedrückt: «Behandelt man eine Erkältung energisch, dann erholt sich der Patient innerhalb von sieben Tagen. Lässt man der Erkältung ihren Lauf, fühlt er sich nach einer Woche wieder wohl.» Oder etwas zynischer ausgedrückt: «Die Natur heilt, der Arzt kassiert das Honorar.» Aber natürlich kann sich ein Krankheitsbild unter Therapie auch verschlechtern.

Gerade weil es vorkommt, dass Menschen häufig auch ohne irgendeine spezielle Behandlung von einer Krankheit genesen, müssen bei der Überprüfung medizinischer Therapien auch der «natürliche » Verlauf und die Folgen der unbehandelten Krankheit berücksichtigt werden. Sicher haben Sie auch schon einmal Halsschmerzen, Magenkrämpfe oder einen ungewöhnlichen Hautausschlag gehabt. Diese Beschwerden klingen häufig von selbst, d. h. ohne besondere ärztliche Behandlung, wieder ab. Wenn Sie aber deswegen behandelt worden sind, dann haben Sie vielleicht geglaubt, dass das Abklingen der Symptome auf die Behandlung zurückzuführen war (selbst wenn es sich dabei um eine unwirksame Behandlung gehandelt haben sollte). Kurzum: Die Kenntnis des natürlichen Verlaufs einer Krankheit, einschließlich der Wahrscheinlichkeit, dass sie von selbst heilt (Spontanremission), kann sowohl unnötigen Behandlungen wie auch dem falschen Glauben an Heilmittel vorbeugen, deren Wirksamkeit nicht bewiesen ist.

Falsch verstandene Heilmittel
« … zum einen gilt es angeblich als bewiesen, dass sich Taucher, und zwar nicht wenige von ihnen, von der Taucherkrankheit als geheilt ansehen, wenn sie Tabak zu sich nehmen, und zum anderen, dass kein Mensch dadurch jemals Schaden genommen habe. Zum einen wohnt diesem Argument ein großes Missverständnis inne, zum anderen eine ungeheuerliche Absurdität: … wenn ein Kranker sich auf dem Höhepunkt seiner Krankheit befindet und in diesem Moment Tabak zu sich genommen hat und wenn seine Krankheit danach ihren natürlichen Verlauf nimmt und nachlässt und der Patient folglich wieder gesundet, ja dann ist es fürwahr der Tabak, der dieses Wunder bewirkt hat.»

James Stuart, King of Great Britaine, France and Ireland. A counterblaste to tobacco. In: The workes of the most high and mightie prince, James. Published by James, Bishop of Winton, and Deane of his Majesties Chappel Royall. London: printed by Robert Barker and John Bill, printers to the Kings most excellent Majestie, 1616: S. 214–222.

Gerade wenn die Krankheitssymptome periodisch kommen und gehen, ist es schwer, die Wirkungen medizinischer Behandlungen näher zu bestimmen. Patienten mit Arthritis beispielsweise suchen vor allem dann ärztliche Hilfe, wenn sie einen besonders schweren Schub haben. Ein solcher Schub hält aber naturgemäß selten längere Zeit an. Ganz gleich, ob es sich bei der Behandlung, welche die Patienten dann erhalten, um eine wirksame oder unwirksame schulmedizinische oder auch alternative Therapie handelt: Nach der Behandlung nehmen die Schmerzen der Patienten ab, und zwar einfach deshalb, weil der Schub abklingt. Verständlicherweise neigen Ärzte und Patienten aber dazu, solche Besserungen auf die Behandlung zurückzuführen, selbst wenn sie möglicherweise gar nicht dafür verantwortlich ist.

Die positiven Wirkungen von Optimismus und Wunschdenken

Heute wissen wir Einiges über die psychologischen Gründe dafür, dass Menschen dazu neigen, eine Besserung ihrer Krankheit der Behandlung zuzuschreiben, die sie erhalten haben. Wir alle neigen zu dem Glauben, dass, wenn ein Ereignis auf das andere folgt, dann das erste Ereignis für das zweite verantwortlich ist. Ferner neigen wir dazu, Muster zu sehen, wo keine sind: Dies ist ein Phänomen, das sich oft und bei so unterschiedlichen Dingen wie dem Münzenwerfen, bei Aktienkursen und Korbwürfen beim Basketball beobachten lässt. Wir alle sind auch anfällig für ein Problem, das man als Bestätigungsbias (engl. confirmation bias) bezeichnet: Wir sehen, was wir zu sehen erwarten: «Glauben heißt sehen». Jedes Argument, das unsere Überzeugungen stützt, stärkt unser Vertrauen darauf, dass wir Recht haben. Umgekehrt erkennen oder akzeptieren wir Informationen, die unseren Ansichten widersprechen, nicht so ohne weiteres und neigen deshalb dazu, die Augen davor zu verschließen, oftmals unbewusst.

Die meisten Patienten und Ärzte hoffen natürlich, dass die medizinische Behandlung hilft. Sie kommen vielleicht zu dem Schluss, dass etwas wirkt, einfach weil dies mit ihrer Überzeugung, dass es wirken sollte, übereinstimmt. Nach Informationen, die ihren Überzeugungen zuwiderlaufen, wird gar nicht erst gesucht, oder sie werden verworfen. Diese psychologischen Muster erklären auch, warum Patienten, die daran glauben, dass ihnen eine Behandlung helfen wird, durchaus auch eine Besserung ihres Zustands erleben können – selbst wenn die Behandlung in Wirklichkeit gar keinen aktiven Wirkstoff enthält (eine «Scheinbehandlung», oft auch als «Placebo» bezeichnet). Auch nach der Einnahme einer aus Zucker bestehenden Tablette, nach einer Injektion mit Wasser, nach einer Behandlung mit inaktivierten elektrischen Geräten oder nach einer Operation, bei der nicht mehr als ein kleiner Schnitt gesetzt und wieder zugenäht wurde, haben Patienten schon über eine Besserung berichtet.

Glauben heißt sehen
Der britische Arzt Richard Asher stellte dazu in einem Vortrag Folgendes fest: «Wenn Sie inbrünstig an Ihre Therapie glauben können, selbst wenn kontrollierte Studien zeigen, dass sie im Grunde nutzlos ist, dann erzielen Sie sehr viel bessere Behandlungsergebnisse, Ihren Patienten geht es deutlich besser und auch Ihr Einkommen sieht viel besser aus. Mit diesem Phänomen lässt sich meiner Meinung nach zum einen der bemerkenswerte Erfolg erklären, den einige weniger talentierte, doch leichtgläubigere Mitglieder unseres Berufsstandes haben, zum anderen aber auch die tiefe Abneigung gegen Statistiken und kontrollierte Studien, die moderne und erfolgreiche Ärzte für gewöhnlich an den Tag legen.»

Asher R. Talking sense (Lettsomian lecture, 16 Feb, 1959). Transactions of the Medical Society of London, vol LXXV, 1958–59. Reproduced in: Jones, FA, ed. Richard Asher talking sense. London: Pitman Medical, 1972.

Warum der erste Eindruck nicht alles ist

Aber warum reicht es nicht, wenn Patienten glauben, dass ihnen etwas hilft? Warum ist es wichtig, keine Mühen und Kosten für Forschungsarbeiten zu scheuen, um die Wirkungen medizinischer Behandlungen auf formalere Art und Weise zu bewerten und vielleicht herauszufinden versuchen, ob und wenn ja, wie sie den Patienten geholfen haben? Dafür gibt es mindestens zwei Gründe. Zum einen lenken Therapien, die nicht wirken, unsere Aufmerksamkeit von wirksamen Therapien ab. Zum anderen haben viele (wenn nicht sogar die meisten) Therapien unerwünschte Nebenwirkungen, von denen einige vorübergehend sind, einige länger anhalten und manche noch gänzlich unerkannt sind. Wenn Patienten diese Therapien nicht anwenden, bleiben sie auch von diesen unerwünschten Wirkungen verschont. Deshalb sollte man versuchen herauszufinden, welche Behandlungen höchstwahrscheinlich gar nicht helfen oder welche Behandlungen eventuell mehr schaden als nützen. Zudem kann uns die Forschung wichtige Hinweise darauf geben, wie Therapien wirken, und so Möglichkeiten zur Entwicklung besserer und sichererer Therapien aufzeigen.

Die Erforschung von Therapieeffekten spielt überall eine Rolle, besonders aber in Gesellschaften, die um die gerechte Verteilung der Ressourcen im Gesundheitswesen unter allen Patienten bemüht sind. Beispiele dafür sind der britische National Health Service (NHS) oder die US Veterans Health Administration. In diesen Systemen müssen ständig Entscheidungen darüber getroffen werden, welche Therapien – gemessen an den im Gesundheitswesen zwangsläufig nur begrenzt verfügbaren Ressourcen – ihr Geld wert sind. Wenn einige Patienten Behandlungen erhalten, deren Wirksamkeit nicht belegt ist, kann dies zur Folge haben, dass anderen Patienten Behandlungen vorenthalten werden müssen, die sich als wirksam erwiesen haben. In Deutschland wurde für solche Nutzenbewertungen 2004 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen eingerichtet (www.iqwig.de).

Die vorangegangenen Ausführungen sollen aber nicht den Eindruck erwecken, als seien die Eindrücke und Vorstellungen von Patienten und Ärzten bezüglich der Wirkungen medizinischer Therapien unwichtig. Tatsächlich sind sie häufig der Ausgangspunkt für die formale Untersuchung von anscheinend vielversprechenden neuen Therapien. Den Beobachtungen von Ärzten und Patienten durch formale Forschung nachzugehen, führt manchmal zur Aufdeckung sowohl schädlicher als auch nützlicher Therapieeffekte. Ein Beispiel dafür ist die Patientin aus Kap. 2, Diethylstilbestrol) und ihre Vermutung, dass das seltene Vaginalkarzinom ihrer Tochter vielleicht durch das Medikament Diethylstilbestrol (DES) ausgelöst worden war, mit dem sie selbst 20 Jahre zuvor während ihrer Schwangerschaft behandelt worden war. Und weder der Patient, der die unerwartete Nebenwirkung des neuen Medikaments erwähnte, das ihm wegen seines erhöhten Blutdrucks verschrieben worden war, noch sein Arzt hätten sich wohl zu dem Zeitpunkt träumen lassen, dass diese Beobachtung die Grundlage für den Verkaufsschlager Sildenafil (Viagra) legen würde.

Solche – manchmal wichtigen – Einzelbeobachtungen eignen sich aber nicht als ausreichende Basis, um daraus fundierte Schlussfolgerungen über Therapieeffekte zu ziehen, ganz zu schweigen von Therapieempfehlungen für andere Patienten.

Was also sind faire Tests von Therapien?

Wie die meisten von uns wissen, kann es ein Fehler sein, Medienberichte über irgendwelche medizinischen Fortschritte für bare Münze zu nehmen. Doch die traurige Wahrheit ist, dass man auch bei Therapieberichten in anscheinend seriösen Fachzeitschriften auf der Hut sein muss. Irreführende und überzogene Behauptungen über medizinische Therapien sind auch hier keine Seltenheit, und daher ist es wichtig, dass man die Zuverlässigkeit solcher Behauptungen beurteilen kann.

Wenn wir Berichte über die Wirkungen irgendwelcher Therapien einfach unbesehen glauben, gehen wir zwei Risiken ein: Wir könnten fälschlicherweise den Schluss ziehen, dass eine hilfreiche Therapie nutzlos oder sogar gefährlich ist. Oder wir folgern ebenfalls fälschlicherweise, dass eine an sich nutzlose oder sogar gefährliche Therapie wirksam ist. Faire Therapietests sind daher dazu ausgelegt, zuverlässige Informationen über die Wirkungen von Behandlungen zu gewinnen, indem sie:

  1. Gleiches mit Gleichem vergleichen, um Einflussfaktoren (systematische Fehler, Bias), die zu Ergebnisverzerrungen führen, zu reduzieren
  2. den Zufallsfaktor berücksichtigen
  3. alle zusätzlichen relevanten, zuverlässigen wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Bewertung einfließen lassen.

In diesem und den nächsten beiden Kapiteln wollen wir uns mit diesen drei wichtigsten Eigenschaften fairer Tests befassen.