Kann eine einzige Studie genügen?

Die einfache Antwort lautet: «Wohl kaum». Nur selten wird ein einziger fairer Therapievergleich hinreichend verlässliche Erkenntnisse (Evidenz) liefern, auf deren Grundlage eine Entscheidung über verschiedene Therapieoptionen getroffen werden kann. Gelegentlich kann das aber doch vorkommen. Zu diesen seltenen Einzelstudien gehört eine Studie, in der nachgewiesen wurde, dass die Einnahme von Aspirin während eines Herzinfarkts das Risiko eines vorzeitigen Todes senkt [1], eine zweite, in der deutlich wurde, dass die Gabe von Steroiden bei akuten traumatischen Hirnverletzungen tödlich ist (s. u. und Kap. 7, Was bedeutet ein «signifikanter Unterschied» zwischen den Therapien?, Absatz 2), sowie eine dritte Studie, in der Koffein als einziges Medikament identifiziert wurde, mit dem sich bei Frühgeborenen eine Zerebralparese verhindern lässt (s. Kap. 5, Antibiotika bei vorzeitigen Wehen, Absatz 2). Normalerweise ist eine Einzelstudie aber nur einer von mehreren Vergleichen, in denen denselben oder ähnlichen Fragen nachgegangen wird. Deshalb sollten die Ergebnisse aus Einzelstudien immer zusammen mit den Ergebnissen aus anderen, ähnlichen Studien ausgewertet werden.

Der britische Statistiker Austin Bradford Hill, einer der Pioniere fairer Therapietests, forderte in den 1960er-Jahren, dass in Forschungsberichten die folgenden vier Fragen beantwortet werden müssten:

  • Warum wurde die Untersuchung begonnen?
  • Was wurde gemacht?
  • Was wurde herausgefunden?
  • Und was bedeuten ihre Ergebnisse überhaupt?
Warum wurde die Untersuchung begonnen?
«Nur wenige Prinzipien sind für die wissenschaftliche und ethische Validität medizinischer Forschung wichtiger als der Grundsatz, dass Studien Fragen untersuchen sollten, die dringend beantwortet werden müssen, und dass sie so ausgelegt sein sollten, dass sie eine bedeutsame Antwort auf diese Fragen geben können. Diese beiden Ziele setzen voraus, dass dazu relevante frühere Forschungsarbeiten identifiziert werden. … Ein unvollständiges Bild der bereits vorhandenen Erkenntnisse stellt eine Verletzung der unausgesprochenen ethischen Grundlage des Vertrags mit den Studienteilnehmern dar, wonach die Informationen, die mit ihrer Hilfe gewonnen werden sollen, notwendig und für andere Menschen von Nutzen sind.»

Robinson KA, Goodman SN. A systematic examination of the citation of prior research in reports of randomized, controlled trials. Annals of Internal Medicine 2011; 154: 50–55.

Auch heute haben diese Schlüsselfragen nichts von ihrer Bedeutung verloren, und doch werden sie nur allzu oft unzureichend thematisiert oder gar völlig übersehen. Die Antwort auf die letzte Frage – Was bedeuten die Ergebnisse? – ist besonders wichtig, weil sie sehr wahrscheinlich Einfluss auf Therapieentscheidungen sowie Entscheidungen über zukünftige Forschungsvorhaben hat.

Nehmen wir das Beispiel der kurzzeitigen Verabreichung eines preiswerten steroidhaltigen Medikaments an Frauen mit drohender Frühgeburt. Der erste faire Test zu dieser Therapie, über den 1972 berichtet wurde, ergab, dass die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit von Frühgeborenen nach der mütterlichen Einnahme eines solchen steroidhaltigen Medikaments abnimmt. Zehn Jahre später waren dazu weitere Untersuchungen durchgeführt worden: Es handelte sich dabei allerdings um kleine Studien, deren Einzelergebnisse verwirrend waren, weil keine von ihnen früher durchgeführte ähnliche Studien systematisch berücksichtigt hatte. Andernfalls wäre nämlich deutlich geworden, dass man aus ihnen sehr stichhaltige Belege zugunsten eines vorteilhaften Effekts dieser Medikamente hätte ableiten können. Da dies erst 1989 nachgeholt wurde, war den meisten Geburtshelfern, Hebammen, Kinderärzten und Säuglingsschwestern zwischenzeitlich gar nicht bewusst, wie wirksam diese Therapie war. Infolgedessen hatten zehntausende Frühgeborene unnötig leiden und sterben müssen. [2]

Um die Frage «Was bedeuten die Ergebnisse?» zu beantworten, müssen die aus einem einzelnen fairen Therapievergleich stammenden Erkenntnisse zusammen mit den Ergebnissen anderer, ähnlicher fairer Vergleiche ausgewertet werden. Neue Studienergebnisse zu veröffentlichen, ohne sie im Licht anderer relevanter und im Rahmen systematischer Übersichtsarbeiten zusammengefasster Ergebnisse zu interpretieren, kann zu einer verzögerten Identifizierung sowohl nützlicher als auch schädlicher Therapien und auch zu unnötiger Forschung führen.

Informationen aus der Forschung zusammenfassen
Schon vor mehr als einem Jahrhundert äußerte sich Lord Rayleigh, der damalige Präsident der British Association for the Advancement of Science, über die Notwendigkeit, die Ergebnisse neuer Forschungsarbeiten in den Kontext anderer relevanter Forschungsergebnisse zu stellen: «Bestünde die Wissenschaft, wie zuweilen angenommen wird, lediglich aus dem mühseligen Sammeln von Fakten, würde sie bald zum Stillstand kommen und sozusagen von ihrem eigenen Gewicht erdrückt werden … Deshalb müssen hier zwei Prozesse gleichzeitig stattfinden: die Aufnahme neuer Ergebnisse sowie die «Verdauung» und Integration bereits vorhandener Erkenntnisse; und da beide Prozesse wichtig sind, können wir uns die Diskussion ihrer jeweiligen Bedeutung an dieser Stelle sparen … Die Arbeiten, die die meiste Anerkennung verdienen, aber leider nicht immer erhalten, sind diejenigen, bei denen Entdeckung und Erklärung Hand in Hand gehen, in deren Zusammenhang nicht nur die neuen Fakten vorgestellt werden, sondern auch der Zusammenhang mit den schon vorhandenen aufgezeigt wird.»

Rayleigh, Lord. In: Report of the fifty-fourth meeting of the British Association for the Advancement of Science; held at Montreal in August and September 1884. London: John Murray, 1884: pp. 3–23.