Information und Einverständnis

Auch die Anforderungen seitens der Reglementierungssysteme an die Bereitstellung von Patienteninformationen und die Zustimmung zur Studienteilnahme dienen eher der Abschreckung als dem Anreiz, sich mit Unsicherheiten bezüglich medizinischer Therapien auseinanderzusetzen. Es ist wichtig – und ethisch unabdingbar – die Interessen all derjenigen zu berücksichtigen, die sich derzeit in Behandlung befinden, und nicht nur der wenigen Personen, die an kontrollierten Studien teilnehmen. [2] Deshalb sollte der Standard für die Einwilligung in eine Therapie nach erfolgter Aufklärung («informierte Einwilligung») für alle Personen gleich sein, egal, ob sie die Therapie innerhalb oder außerhalb offizieller Therapiestudien erhalten. Um eine Entscheidung treffen zu können, die mit ihren Wertvorstellungen und Präferenzen in Einklang steht, sollten den Patienten die nötigen Informationen in dem von ihnen gewünschten Umfang und zu dem von ihnen gewünschten Zeitpunkt zugänglich gemacht werden.

Wenn im Praxisalltag eine Behandlung angeboten oder verordnet wird, wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Patienten jeweils unterschiedliche Vorlieben und Bedürfnisse haben, die sich im Laufe der Zeit zudem auch ändern können. Ferner gilt als anerkannt, dass die Menschen nicht nur unterschiedliche Ansprüche an die Menge oder die Art der gewünschten Informationen haben, sondern dass sie auch unterschiedlich befähigt sind, all diese Informationen in der verfügbaren Zeit zu verarbeiten, und sich auch in der Ausprägung ihrer Sorgen und Ängste unterscheiden. Ärzte sind aufgefordert, ihre Patienten bei Behandlungsentscheidungen einfühlsam zu unterstützen und jederzeit auf die jeweiligen Bedürfnisse des Einzelnen einzugehen.

Die Einwilligungserklärung noch einmal überdenken
«[Manche] sind zu der Auffassung gelangt, dass die ‹informierte Zustimmung› [Einwilligungserklärung] für eine gute biomedizinische Praxis gar nicht wesentlich ist, und … alle Versuche, sie dazu zu machen, weder notwendig noch durchführbar sind. Wir hoffen, dass der im Laufe der letzten 50 Jahre geschaffene Moloch aus Einwilligungserfordernissen nun in einem deutlich kürzeren Zeitraum reformiert und verkleinert werden wird.»

Manson NC, O’Neill O. Rethinking informed consent in bioethics. Cambridge: Cambridge University Press, 2007, S. 200.

In der Forschung wird die Aufklärung potenzieller Studienteilnehmer von den Reglementierungsbehörden beaufsichtigt, die oftmals darauf bestehen, dass schon zum Zeitpunkt der Einladung zur Studienteilnahme eine möglichst umfassende Weitergabe aller potenziell relevanten Informationen erfolgt. Bei Patienten, die es vorziehen, die Entscheidung ihrem Arzt zu überlassen, könnte dies unnötigerweise zu Aufregung, Frustration oder Angst führen bzw. unnötige Bedenken wecken. [3]

Die klinische Studie zur Verabreichung von Koffein an Frühgeborenen, die wir in Kapitel 5 (Koffein zur Behandlung von Atemproblemen bei Frühgeborenen, Absatz 2) erwähnt haben, ist ein anschauliches Beispiel dafür, welcher Schaden angerichtet werden kann, wenn man auf einer möglichst umfassenden Aufklärung der Kandidaten für wissenschaftliche Studien beharrt. Für die Koffeinstudie wurden weltweit mehr als 2 000 Frühgeborene rekrutiert, aber dieser Vorgang dauerte ein Jahr länger als erwartet, weil die Rekrutierung für die Studie nur schleppend verlief. Besonders langsam erfolgte sie in Großbritannien, wo mehrere Studienzentren sich wegen regulatorischer Verzögerungen im Genehmigungsprozess aus der Studie zurückzogen. Zu allem Überfluss bestand die Ethik-Kommission auch noch darauf, die Eltern darüber aufzuklären, dass Koffein bei den Säuglingen Krampfanfälle auslösen könne – obwohl diese Komplikation erst nach einer zehnfachen Überdosierung auftrat. Also wurden die Eltern mit offensichtlich beängstigenden Informationen konfrontiert, die sie wahrscheinlich gar nicht gebraucht und vermutlich auch nicht erhalten hätten, wenn das Koffein im Rahmen einer Routinebehandlung verabreicht worden wäre.

Eine vernünftige Einstellung zur Patienteneinwilligung im Rahmen guter medizinischer Praxis
«Was in der Debatte um die Patienteneinwilligung fehlt, ist die Frage, was Patienten bereits wissen, welche Informationen sie haben möchten und wie man mit Patienten umgehen soll, die nur das Nötigste wissen wollen. Es gibt nur wenige Arbeiten, in denen untersucht wird, wie Patienten die Informationen, die sie erhalten, verstehen. Ärzten fällt es oftmals schwer zu beurteilen, in welchem Umfang ihre Patienten oder deren Angehörige die Informationen richtig verstehen. Wie viel verstanden wird, richtet sich nach dem Informationsgeber, nach seinen Erläuterungen und nach der Zeit oder der Umgebung, die für die Informationsaufnahme erforderlich ist. Ein paternalistisches Vorgehen ist in der medizinischen Praxis nicht mehr akzeptabel; gute medizinische Praxis setzt eine vernunftorientierte Vorgehensweise voraus, bei welcher der Sachverhalt verständlich erklärt wird, das Gesagte sich daran orientiert, was der Patient anscheinend möchte, und überprüft wird, ob er es verstanden hat.»

Gill R. How to seek consent and gain understanding. BMJ 2010; 341: c4000.

Es gibt kaum Belege dafür, dass die gemeinhin propagierten Formen der Forschungsreglementierung mehr nutzen als schaden. [4] Das Wenige, was uns an Evidenz vorliegt, ist freilich verstörend. So kann beispielsweise in Studien, in denen die Wirkungen von Therapien untersucht werden, die akut verabreicht werden müssen (z. B. in Notfallsituationen), das «Ritual» der obligatorischen Einholung der schriftlichen Patienteneinwilligung nicht nur zu Todesfällen führen, die vermeidbar wären, sondern auch zu einer Unterschätzung der Therapieeffekte. [5]

Das Einholen der Patienteneinwilligung stellt eine Public-Health- Intervention dar, die mitunter mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt. Wie bei anderen gut gemeinten Interventionen sollten ihre Wirkungen einer strengen Bewertung unterzogen werden. Die tödlichen Folgen, die wir an anderer Stelle beschrieben haben, hätten vielleicht schon vor Jahrzehnten erkannt werden können, wenn auch die Ethik-Kommissionen verpflichtet wären, solide Belege dafür zu erbringen, dass ihre «Verordnungen» mehr nützen als schaden.

Flexibilität bei der Aufklärung potenzieller Studienteilnehmer, die anerkennt, dass das Vertrauen zwischen Arzt und Patient die Grundlage für eine zufriedenstellende Konsultation darstellt, ist besser als ein starres, standardisiertes Vorgehen. Aber aufgrund der Art und Weise, wie die Reglementierungssysteme in die Forschung eingreifen, können Ärzte derzeit nicht frei entscheiden, wie sie ihre Patienten über eine wissenschaftliche Studie aufklären. Zudem fällt es ihnen oft schwer, über die der Forschung innewohnenden Unsicherheiten zu sprechen. Wie wir in Kapitel 5 erwähnt haben, fühlen sich Ärzte bei der Rekrutierung von Patienten für klinische Studien oftmals unbehaglich, wenn sie sagen müssen: «Ich weiß nicht, welche Behandlung die beste ist», und die Patienten wollen das oft auch gar nicht hören. Sowohl Ärzte als auch Patienten müssen Unsicherheiten besser einschätzen und verstehen können, warum Forschung wichtig ist (s. Kap. 11).

Akademischer Schnickschnack oder sinnvolle Entscheidung?
«Vor zwölf Jahren überschritt ich die Arzt-Patient-Grenze, als bei mir im Alter von 33 Jahren Brustkrebs festgestellt wurde. Damals saß ich gerade an meiner Doktorarbeit, in der es um die Schwierigkeiten der Anwendung von randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) bei der Bewertung der Wirksamkeit von Therapien in meinem eigenen Fach, der Kieferorthopädie, ging. Im Rahmen meiner Forschungsarbeiten hatte ich erkannt, welche Vorteile die Teilnahme an klinischen Studien hatte, und wusste ironischerweise auch um die Unsicherheiten hinsichtlich der Behandlung von jüngeren Frauen mit Brustkrebs im Frühstadium. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung fragte ich deshalb meinen Arzt, ob es irgendwelche RCTs gäbe, an denen ich teilnehmen könnte. Seine Antwort schockierte mich. Er meinte, ich dürfe nicht zulassen, dass die für mich am besten geeignete Therapie durch wissenschaftliche Spitzfindigkeiten torpediert würde. Doch was war die beste Therapie? Ich jedenfalls wusste es nicht und musste zudem feststellen, dass auch in der Ärzteschaft Zweifel an der optimalen Therapie für Frauen unter 50 Jahren mit Brustkrebs im Frühstadium herrschten. Was sollte ich nur tun?»

Harrison J. Testing times for clinical research. Lancet 2006; 368: 909–910.