Verkehrte Forschungsprioritäten

Die meisten Organisationen, die biomedizinische Forschung fördern, und die meisten Wissenschaftler, die sie durchführen, verfolgen ein hehres Ziel: nämlich Erkenntnisse beizusteuern, die einen Beitrag zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit leisten. Doch wie viele der Millionen von alljährlich veröffentlichten biomedizinischen Forschungsberichten leisten wirklich einen nützlichen Beitrag zur Verwirklichung dieses noblen Ziels?

Für Patienten relevante Fragen

Wissenschaftler aus Bristol beschlossen, einer grundsätzlichen Frage nachzugehen: «In welchem Umfang finden Fragen, die für Patienten mit Kniegelenkarthrose und ihre behandelnden Ärzte relevant sind, in der Forschung zu diesem Krankheitsbild tatsächlich Berücksichtigung?» [17] Dazu stellten sie zunächst vier Fokusgruppen zusammen: Patienten, Rheumatologen, Physiotherapeuten und Allgemeinmediziner. Diese Gruppen waren einhellig der Meinung, dass sie keine weiteren von pharmazeutischen Unternehmen gesponserten Studien wollten, in denen schon wieder ein neues nichtsteroidales Antiphlogistikum (Medikamentenklasse, zu der z. B. auch Ibuprofen gehört) mit einem Placebo verglichen werden würde. Anstelle von Medikamentenstudien wünschten sich die Patienten eine gründliche Bewertung von Physiotherapie und Operation sowie von Bewegungsschulungen und Bewältigungsstrategien, die Patienten im Umgang mit dieser chronischen, behindernden und oft auch schmerzhaften Krankheit besser unterstützen können.

Diese Formen der Behandlung und Krankheitsbewältigung bieten natürlich einen deutlich geringeren Spielraum für die kommerzielle Nutzung als Medikamente, weshalb man sie häufig einfach ignoriert.

In wie vielen anderen Bereichen der Therapieforschung würde wohl ein ähnliches Ungleichgewicht hinsichtlich der für Patienten und Ärzte relevanten Fragen zu Therapieeffekten und den Fragen, mit denen sich die Wissenschaftler tatsächlich beschäftigen, zu Tage treten, wenn man sie wie oben beschrieben bewerten würde? Leider scheint eine solche Diskrepanz eher die Regel als die Ausnahme zu sein. [1821]

Geringfügige Änderungen in der Arzneimittelformulierung haben nur selten zur Folge, dass die Medikamente vollkommen neue und noch vorteilhaftere Wirkungen zeigen. Und doch herrscht in der Therapieforschung diese Art von Studien vor, nicht nur in Bezug auf Arthritis, sondern auch hinsichtlich anderer chronischer Krankheiten. Was für eine Vergeudung von Ressourcen!

Wer entscheidet, was untersucht wird

Diese Situation ist alles andere als befriedigend. Wie konnte es dazu kommen? Ein Grund ist, dass das, was von Wissenschaftlern untersucht wird, durch äußere externe Faktoren verzerrt wird. [22] So betreibt z. B. die pharmazeutische Industrie Forschung vorrangig, um ihre Verantwortung gegenüber den Anteilseignern zu erfüllen, d. h. um Gewinne zu erzielen. Die Verantwortung gegenüber Patienten und Ärzten kommt erst an zweiter Stelle. Unternehmen unterliegen dem Einfluss großer Märkte – etwa dem Markt der Frauen, die vor der Frage stehen, ob sie sich einer Hormonersatztherapie unterziehen sollen, oder dem Markt aller depressiven, ängstlichen oder unglücklichen Menschen oder dem der Schmerzpatienten. Doch hat diese kommerziell ausgerichtete Vorgehensweise in den letzten Jahrzehnten nur selten wichtige neue Therapien hervorgebracht – noch nicht einmal für die sogenannten «Volkskrankheiten». Stattdessen werden von der Industrie meist viele sehr ähnliche Verbindungen aus einer Medikamentenklasse auf den Markt gebracht, die sogenannten «Metoo»- oder Analogpräparate. Das lässt an die Zeiten denken, als es in [britischen] Supermärkten als einzige Brotsorte nur geschnittenes weißes Toastbrot zu kaufen gab – das aber in unendlich vielen Varianten. Daher ist es kaum verwunderlich, dass die pharmazeutische Industrie mehr Geld für das Marketing als für die Forschung ausgibt.

Aber wie schafft die Industrie es, die verordnenden Ärzte davon zu überzeugen, dass diese neuen Produkte besser sind als die schon vorhandenen preiswerteren Alternativen? Eine gebräuchliche Strategie ist die Vergabe zahlreicher kleinerer Forschungsprojekte, mit denen man nachweist, dass es besser ist, die neuen Medikamente zu verabreichen als gänzlich auf Medikamente zu verzichten. Über die Frage, ob die neuen Medikamente besser sind als die bereits vorhandenen wird dagegen überhaupt nicht geforscht. Leider fällt es der Industrie nicht besonders schwer, Ärzte zu finden, die bereit sind, ihre Patienten in ein solches nutzloses Unterfangen aufzunehmen. Und diese Ärzte sind es dann auch, die die auf diese Weise beforschten Medikamente letztes Endes verschreiben. [23] Zu allem Überfluss verschärfen die Arzneimittelzulassungsbehörden das Problem häufig noch dadurch, dass sie darauf bestehen, dass neue Medikamente gegen Placebo und nicht mit den schon vorhandenen wirksamen Medikamenten verglichen werden.

Auswirkungen von Analogpräparaten in Kanada
«In British Columbia wurde ein Großteil (80 %) des Anstiegs bei den Arzneimittelkosten zwischen 1996 und 2003 mit der Anwendung neuer patentierter Medikamente erklärt, die gegenüber den vor 1990 erhältlichen preiswerteren Alternativen aber keine wesentlichen Verbesserungen aufwiesen. Die steigenden Kosten dieser Me-too-Präparate, deren Preise diejenigen von seit langem bewährten Konkurrenzprodukten deutlich übersteigen, bedürfen einer sorgfältigen Prüfung. Konzepte für die Preisgestaltung bei Arzneimitteln wie in Neuseeland ermöglichen unter Umständen Einsparungen, die für die Finanzierung anderer Erfordernisse im Gesundheitswesen nutzbar gemacht werden könnten. So hätten in British Columbia $ 350 Millionen (26 % der Gesamtausgaben für verschreibungspflichtige Medikamente) eingespart werden können, wenn die Hälfte der 2003 verbrauchten Me-too-Präparate sich preislich an den älteren Alternativen orientiert hätte. Mit diesen Einsparungen könnte man die Honorare von mehr als tausend neuen Ärzten bezahlen.

Geht man davon aus, dass die Liste der 20 weltweit umsatzstärksten Medikamente auch neu patentierte Versionen von Medikamenten aus lange bekannten Medikamentenklassen enthält … so werden die Ausgabentrends in den meisten Industrienationen wahrscheinlich von den Me-too-Präparaten beherrscht.»

Morgan SG, Bassett KL, Wright JM, et al. «Breakthrough» drugs and growth in expenditure on prescription drugs in Canada. BMJ 2005; 331: 815–816.

Eine weitere Strategie ist das Ghostwriting. Dabei wird ein Text von einem Auftragsschreiber verfasst, als Autor offiziell aber eine andere Person angegeben. Die meisten von uns haben bestimmt schon einmal die Autobiographie einer berühmten Persönlichkeit in der Hand gehabt, die eindeutig aus der Feder eines solchen Ghostwriters stammte. Solche fremderstellten Texte tauchen aber auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf – und zwar mit potenziell beunruhigenden Folgen. Manchmal beauftragt die pharmazeutische Industrie ein Kommunikationsunternehmen mit der Erstellung von Artikeln, die das Produkt des betreffenden Herstellers erwartungsgemäß in einem günstigen Licht präsentieren. Nach Fertigstellung des Artikels wird ein Akademiker vertraglich, gegen «Honorar», verpflichtet, als dessen «Autor herzuhalten». Anschließend wird der Beitrag zur Publikation eingereicht. Ganz besonders beliebt ist in dieser Hinsicht die Zeitschriftenrubrik «Kommentare». Ein weiteres Zielobjekt der Industrie sind Zeitschriftensupplemente – das sind separate gebundene Sonderhefte, die zwar den Namen der Trägerzeitschrift führen, häufig aber von der Industrie gesponsert sind und meist einem weniger strengen Peer-Review-Verfahren unterliegen als die Trägerzeitschrift selbst. [24] Auf diese Weise generierte und geförderte Werbebotschaften führen dazu, dass die Vorzüge der jeweiligen Produkte zu stark angepriesen und ihre Nachteile bagatellisiert werden (s. auch Kap. 8, Wie man die gesamte relevante Evidenz für systematische Reviews identifiziert, Kasten Marketingbasierte Medizin).

Ärzte und die Pharmaindustrie
«Niemand kennt die genaue Summe, welche die Pharmaindustrie an Ärzte zahlt, aber aus den Jahresberichten der neun führenden US-amerikanischen Pharmaunternehmen würde ich schätzen, dass sie sich pro Jahr auf mehrere zehn Milliarden Dollar beläuft. Damit hat die pharmazeutische Industrie eine enorme Kontrolle darüber, wie ihre Produkte von Ärzten beurteilt und verordnet werden. Mit ihren weitreichenden Verbindungen zu Ärzten, vor allem zu leitenden Wissenschaftlern an angesehenen medizinischen Hochschulen, nehmen sie Einfluss auf die Ergebnisse der Forschung, auf die Art und Weise, wie Medizin praktiziert wird, und sogar auf das Verständnis dessen, was eine Krankheit ausmacht.»

Angell M. Drug companies & doctors: a story of corruption. New York Review of Books, 15. Januar 2009

Arzneimittelhersteller platzieren gern auch Werbeanzeigen für ihre Produkte in medizinischen Fachzeitschriften. Üblicherweise enthalten diese Anzeigen Hinweise auf wissenschaftliche Evidenzquellen, um die darin aufgestellten Behauptungen zu untermauern. Auf den ersten Blick mögen sie ja überzeugend sein, doch bei unabhängiger Prüfung der Evidenz ergibt sich ein ganz anderes Bild. Selbst wenn die Ergebnisse aus randomisierten Studien stammen – was die Leser dieser Anzeigen vermutlich als zuverlässige Bewertung einschätzen – so ist doch nicht alles so, wie es scheint. Denn als Wissenschaftler die Werbeanzeigen in führenden medizinischen Fachzeitschriften analysierten, um herauszufinden, ob die Erkenntnisse aus diesen randomisierten Studien plausibel waren, stellten sie Folgendes fest: Überhaupt nur 17 % der zitierten Studien waren von hochwertiger Qualität, stützten die bezüglich des fraglichen Medikaments aufgestellten Behauptungen und waren nicht vom Pharmaunternehmen selbst gesponsert worden. Und wie man weiß, besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass derart gesponserte Forschungsarbeiten zu Ergebnissen gelangen, die für das Produkt des betreffenden Unternehmens günstig ausfallen. [25, 26]

Zwielichtig, undurchsichtig und hinters Licht geführt?
In einem humoristischen Beitrag zur Weihnachtsausgabe des British Medical Journal stellten zwei Wissenschaftler ein erfundenes Unternehmen aus der zweitältesten Branche der Welt mit dem Namen «HARLOT plc» vor, das Studiensponsoren verschiedenste Dienstleistungen offerierte, beispielsweise:

«Garantiert positive Ergebnisse versprechen wir allen Herstellern von dubiosen Medikamenten und Medizinprodukten, die eine Erhöhung ihrer Marktanteile anstreben, allen ärztlichen Berufsgruppen, welche die Nachfrage nach überflüssigen diagnostischen und therapeutischen Leistungen mehren möchten, sowie allen regionalen und nationalen Gesundheitsbehörden, welche die Umsetzung unvernünftiger und eigennütziger gesundheitspolitischer Maßnahmen umzusetzen bestrebt sind … und bei zwielichtigen ‹Me too›-Medikamenten verschafft Ihnen unser Team ‹Me-Too-Prüfpläne leicht gemacht› garantiert positive Studienergebnisse.»

Zu Ihrer großen Verwunderung gingen bei den Autoren doch etliche anscheinend ernst gemeinte Anfragen zu diesem erstaunlichen Portfolio der Fa. HARLOT plc ein.

Sackett DL, Oxman AD. HARLOT plc: an amalgamation of the world’s two oldest professions. BMJ 2003; 327: 1442–1445.

In renommierten medizinischen Fachzeitschriften wie The Lancet [27] wurde in verschiedenen Kommentaren auf die abnormen Anreize, von denen sich manch einer, der in der klinischen Forschung tätig ist, motiviert fühlt, sowie die zunehmend zweifelhaften Beziehungen zwischen Universitäten und der Industrie eingegangen. Eine ehemalige Herausgeberin des New England Journal of Medicine stellte die unverblümte Frage: «Ist die Hochschulmedizin käuflich?» [28]

Kommerzielle Prioritäten stellen aber nicht die einzigen abnormen Einflüsse auf Verhaltensmuster in der biomedizinischen Forschung dar, welche die Interessen der Patienten missachten. Viele Menschen an Universitäten und in Einrichtungen zur Forschungsförderung gehen davon aus, dass sich Verbesserungen der Gesundheit sehr wahrscheinlich auf Versuche zur Entschlüsselung der grundlegenden Mechanismen von Krankheit zurückführen lassen. Deshalb führen sie ihre Untersuchungen in Laboratorien und an Tieren durch. Diese Art von Grundlagenforschung ist unbestreitbar nötig. Allerdings gibt es nur herzlich wenig Belege, mit denen sich rechtfertigen ließe, warum auf sie ein erheblich größerer Anteil an Fördermitteln entfällt als auf die unter Mitwirkung von Patienten durchgeführte Forschung. [29, 30] Trotzdem haben wir es mit einer riesigen Flut von Laborexperimenten zu tun, deren Relevanz für den Patienten nicht hinreichend evaluiert wird.

Man braucht nur das richtige Gen zu finden
«Es steht … zu hoffen, dass die genetische Revolution eines Tages alle Probleme des Menschen lösen wird. Wir werden imstande sein, diejenigen Gene zu lokalisieren und zu replizieren, die uns dazu prädisponieren, bessere Häuser zu bauen, der Umweltverschmutzung Herr zu werden, Krebserkrankungen tapferer zu ertragen, die Mittel für Kinderbetreuungseinrichtungen bereitzustellen, die für jedermann zugänglich sind, und uns über Standort und Bauweise eines nationalen Sportstadions einig zu werden. Bald wird jeder Säugling unter genetisch ausgeglichenen Bedingungen geboren. Das Gen, das – sagen wir einmal – bewirkt, dass Mädchen im Abitur besser abschneiden als Jungen, wird identifiziert und entfernt. Es gibt endlose genetische Möglichkeiten. … Also ja, wir betreten eine unsichere Welt, aber eine, die in gewisser Weise auch Hoffnung macht. Denn welche schwerwiegenden moralischen Dilemmata die genetischen Fragen auch aufwerfen mögen, eines Tages wird es gelingen, das Gen zu isolieren, das sie lösen wird.»

Iannucci A. The Audacity of Hype. London: Little, Brown, 2009, S. 270–271.

Ein Grund für diese Ungleichheit ist der Rummel um die klinischen Fortschritte, die man sich aus der Grundlagenforschung, insbesondere der Genetik, erhofft (zu genetischen Untersuchungen s. Kap. 4, Genetische Tests: manchmal sinnvoll, oftmals unzuverlässig). Sir David Weatherall, ein bedeutender Mediziner und Genetiker, drückte dies 2011 wie folgt aus:

Unsere häufigsten Todesursachen spiegeln den Einfluss einer großen Anzahl von Genen mit jeweils kleinen Effekten in Verbindung mit wichtigen Beiträgen physikalischer und sozialer Einflussfaktoren wider. Diese Arbeiten liefern wertvolle Informationen über etliche Krankheitsprozesse, unterstreichen aber auch die Individualität und Variabilität der zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen. Das Zeitalter einer personalisierten Medizin, die auf unserer genetischen Ausstattung beruht, liegt mit Sicherheit noch in weiter Ferne. [31]

Heute, 50 Jahre nach der Entdeckung der DNA-Struktur, scheint diese Kakophonie von Behauptungen über die schon bald zu erwartenden Vorteile der «genetischen Revolution» für die Gesundheitsversorgung allmählich zu verklingen. Anscheinend bricht langsam die Wirklichkeit über uns herein. In einem Vortrag über das Potenzial der Genetik für die Entwicklung neuer Medikamente kommentierte ein Wissenschaftler dies wie folgt:

Wir sind im Zeitalter des Realismus angekommen. … Genetische Aspekte müssen im Zusammenhang mit anderen Faktoren wie z. B. der Umwelt und dem klinischen Einsatz von Medikamenten gesehen werden. Nur weil ein Medikament bei einem Patienten nicht wirkt, bedeutet dies nicht, dass die Ursache dafür in einer genetischen Variation des Therapieansprechens zu suchen ist. [32]

Im Editorial einer Ausgabe der Wissenschaftszeitschrift Nature zur Feier des zehnten Jahrestages der Entschlüsselung des menschlichen Genoms hieß es dazu:

… gewisse Fortschritte hat es in Form von Medikamenten gegeben, die gegen spezifische genetische Defekte gerichtet sind, wie sie z. B. bei einigen Krebsarten und auch bei einigen seltenen erblichen Krankheiten identifiziert wurden. Doch die Komplexität der postgenomischen Biologie hat die anfänglichen Hoffnungen, dass aus dem Rinnsal an Therapien eine wahre Flut werden könnte, zunichte gemacht. [33]

Psoriasis-Patienten – Stiefkinder der Forschung
«Nur wenige Studien beinhalteten einen Vergleich der verschiedenen Behandlungsoptionen oder untersuchten Fragen zur Langzeittherapie. Angesichts einer Krankheit mit potenziell lebenslangem (chronischem) Verlauf sind auch die kurzen Studiendauern nicht überzeugend. Sicher wissen wir anscheinend nur, dass unsere Therapien besser sind als gar nichts. Bezeichnenderweise haben die Wissenschaftler die Erfahrungen, Auffassungen, Präferenzen oder die Zufriedenheit der Patienten vollkommen außer Acht gelassen.»R. Jobling, Vorsitzender der Psoriasis Association

Jobling R. Therapeutic research into psoriasis: patients’ perspectives, priorities and interests. In: Rawlins M, Littlejohns P, eds. Delivering quality in the NHS 2005. Abingdon: Radcliffe Publishing Ltd, S. 53–56.

Wenn wir verantwortungsvoll handeln wollen, dann führt einfach kein Weg daran vorbei, dass wir gut geplante Studien unter der Mitwirkung von Patienten brauchen, um die therapeutischen Konzepte zu prüfen, die sich aus der Grundlagenforschung ergeben. Und nur allzu oft werden solche Theorien nie bis zum Ende verfolgt, um herauszufinden, ob sie für die Patienten auch relevant sind. Mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem Wissenschaftler den Gendefekt entdeckt haben, der die Mukoviszidose (zystische Fibrose) verursacht, stellen Mukoviszidose-Kranke noch immer eine entscheidende Frage: «Wann endlich wird sich diese Entdeckung für unsere Gesundheit bezahlt machen?»

Aber auch dann, wenn die Forschung patientenrelevant zu sein scheint, sehen Wissenschaftler bei der Planung ihrer Studien noch oft genug über die Interessen der Patienten hinweg. Sehr aufschlussreich ist ein Fall, in dem Lungenonkologen aufgefordert wurden, sich in die Lage der Patienten zu versetzen und zu überlegen, ob sie sich zur Teilnahme an den sechs Lungenkrebsstudien bereit erklären würden, für die sie als Patienten vielleicht infrage kämen. Zwischen 36 und 89 % antworteten darauf, dass sie selber nicht an solchen Studien teilnehmen würden. [34]

Auch in klinischen Studien über Psoriasis – eine chronische und belastende Hautkrankheit, von der weltweit ca. 125 Millionen Menschen betroffen sind – finden die Patienteninteressen kaum Berücksichtigung. [35, 36] So hat beispielsweise die Psoriasis Association in Großbritannien herausgefunden, dass Wissenschaftler in vielen Studien zur Beurteilung der Effekte der verschiedenen Therapien auch weiterhin ein weitgehend in Verruf geratenes Bewertungssystem anwenden. Zu den Schwachstellen dieses Systems gehört, dass im Mittelpunkt Zielgrößen wie die Gesamtfläche der betroffenen Haut und die Dicke der Hautveränderungen stehen, während die Patienten, was kaum verwunderlich sein dürfte, vor allem unter Problemstellen im Gesicht, an den Handflächen und Fußsohlen sowie im Genitalbereich leiden. [37]

  • Unnötige Forschung bedeutet Verschwendung von Zeit, Arbeit, Geld und anderen Ressourcen; zudem ist sie ethisch nicht vertretbar und für den Patienten potenziell schädlich.
  • Neue Forschungsvorhaben sollten nur in Angriff genommen werden, wenn eine aktualisierte Übersicht über die bisherige Forschung den Bedarf dafür nachweist und nachdem ihre Eintragung in ein Register erfolgt ist.>
  • Die wissenschaftlichen Daten aus neuen Forschungsarbeiten sollten dazu benutzt werden, um die bisherigen Übersichtsarbeiten über alle relevanten Erkenntnisse zu aktualisieren.
  • Ein Großteil der Forschung ist von minderwertiger Qualität und wird aus fragwürdigen Gründen betrieben.
  • Die Forschungsagenda steht unter widersinnigen Einflüssen seitens der Industrie wie auch der Wissenschaft.
  • Für den Patienten relevante Fragen werden oft gar nicht thematisiert.